Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Ein Blick auf die Daten

05 Okt 2019
Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Ein Blick auf die Daten
Ländlichkeit in Deutschland nach Kreisen (li) und Teilhabe-Cluster (re), Karten: Benjamin Storck

Von Valentine Auer (Text & Diagramme) & Benjamin Storck (Karten)

 

Es war 1949, als das erste Mal die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ im Grundgesetz (Artikel 72) verankert wurde. Im Jahr 1992 wurden diese hohe Erwartungen ein wenig heruntergesetzt: Von der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist seitdem im Grundgesetz zu lesen. Aber kann heute von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ im gesamten Bundesgebiet, in urbanen Räumen wie auch in ländlichen Räumen, gesprochen werden?

Nach wie vor scheint es große Unterschiede zu geben, doch „wer Gleichwertigkeit predigt, muss dann auch liefern. Sonst sind Enttäuschungen programmiert, weil viele der geweckten Erwartungen unerfüllt bleiben“, schreiben Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sowie der stellvertretende Geschäftsführer der Wüstenrot Stiftung Stefan Krämer im Vorwort zum gemeinsam herausgegebenen Teilhabeatlas. Sie plädieren dafür, regionale Unterschiede, die sich nicht beseitigen lassen, und damit auch eine Vielfalt der Lebensbedingungen zu akzeptieren. Tatsächliche Teilhabe der Kommunen solle dabei durch eine Entscheidungs- und Finanzautonomie gestärkt werden.

„Partizipation verstanden als aktives und verbindliches Teilhaben, Mitwirken und Mitbestimmen an Planungen, Entscheidungen und deren Verwirklichung ist ein wesentliches Element gelingender Integration“, heißt es auch in der Beschreibung des fünften Tutzinger Diskurses „Miteinander vor Ort“, der Gelingensbedingungen der Integration im ländlichen Raum fokussiert. Aber was bedeutet ländlicher Raum im Kontext Gesamtdeutschlands überhaupt? Wie sieht es mit den Teilhabemöglichkeiten aller in den unterschiedlichen Regionen der Republik aus? Und was hat all das mit Integration zu tun?

Wie ländlich ist Deutschland?

Eine lockere Wohnbebauung, eine geringe Siedlungsdichte, dafür aber ein hoher Anteil an land- und forstwirtschaftlicher Fläche sowie eine Randlage zu großen Zentren und eine geringe Einwohner*innen-Zahl. Das sind laut dem Thünen-Institut einige der Kennzeichen ländlicher Räume.  2016 analysierte das Thünen-Institut für ländliche Räume die Demographie, die Siedlungsstruktur, die Wirtschaftskraft und die Versorgungslage Deutschlands, um aufzuzeigen, wie vielfältig die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik sind.

Eines der Ergebnisse, das in Form eines Landatlasses auf dem Online-Auftritt des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft veröffentlicht wurde: 57,2 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Räumen und zwar auf einer Fläche von 91,3 Prozent. 27 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands lebt sogar in sehr ländlichen Räumen.

Die Karte zeigt die Ländlichkeit in Deutschland nach Kreisen. Je dunkler die Einfärbung, desto ländlicher der Kreis.

Quelle: Thünen-Institut

In Verbindung mit sozioökonomischen Faktoren zeigt sich zudem, dass 30,7 Prozent der deutschen Bevölkerung, die in ländlichen Regionen lebt, mit einer wenig guten sozioökonomischen Lage konfrontiert ist. Miteinbezogen wurden dabei Indikatoren wie die Arbeitslosenquote, Bruttolöhne und Medianeinkommen, Wohnungsleerstand, die Lebenserwartung sowie die Schulabbrecher*innen-Quote.

Wie sieht es mit der Teilhabe in Deutschland aus?

Ein ähnliches Bild zeigt auch der Teilhabeatlas. Je nach Region sind die Unterschiede der Lebensverhältnisse, der Teilhabe- und damit auch der Zukunftschancen groß. Um zu diesem Schluss zu kommen, analysierten die Forscher*innen die 401 kreisfreien Städte und Landkreise in Bezug auf acht Indikatoren. Entlang dieser Indikatoren wurden sechs Cluster herausgearbeitet und jeder Kreis bzw. jede Stadt einem dieser Cluster zugeordnet.

Dabei zeigt sich, dass 21 Prozent der insgesamt 280 als ländlich eingeordneten Landkreise als „abgehängt“ eingestuft wurden. Viele davon befinden sich in ostdeutschen Bundesländern, aber auch vereinzelt in Niedersachsen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Immerhin 32 Prozent der ländlichen Kreise werden als erfolgreiche Regionen eingestuft, diese wiederum befinden sich insbesondere im wirtschaftsstarken Süden.

Die Kästen zeigen die sechs Cluster des Teilhabeatlas. Je größer sie sind, desto mehr Kreise wurden dem Cluster zugeordnet. Bewegen Sie die Maus über die jeweiligen Cluster, um mehr Informationen zu erhalten.

Quelle: Teilhabeatlas Deutschland, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung | Wüstenrot-Stiftung.

Neben der Cluster-Analyse sprachen die Forscher*innen auch mit den Menschen vor Ort. Das Ergebnis: „Bei der Befragung in 15 exemplarischen Regionen Deutschlands hat sich bestätigt, was die Clusteranalyse aller 401 Kreise und kreisfreien Städte ergeben hat: Dass Stadtbewohner andere Möglichkeiten haben, ihr Leben zu gestalten, als die Menschen in ländlichen Gebieten und dass die Teilhabechancen erheblich davon abhängen, in welchem Teil Deutschlands der Wohnort liegt“, heißt es dazu in der Studie. So bieten vor allem Kreise und Städte im wirtschaftlich erfolgreichen Süden mehr Teilhabemöglichkeiten als jene nördlich des Mains. In den östlichen Bundesländern gibt es auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall große Unterschiede zu denen im Westen Deutschlands, wobei auch Städte im Ruhrgebiet vom Strukturwandel betroffen sind.

Die Karte zeigt die Cluster-Einteilung nach Kreisen. Die grün eingefärbten Kreise zählen zu den ländlichen und die blauen Kreise zu den städtischen Clustern.

Quelle: Teilhabeatlas Deutschland, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung | Wüstenrot-Stiftung.

Dennoch zeigen sich die Bewohner*innen der sogenannten „abgehängten Regionen“ nicht unbedingt unzufrieden. Obwohl ihnen die Nachteile bewusst sind, finden sich überall Menschen, die für sich als auch für ihren Ort Perspektiven sehen. Fatal sei eine Kombination von wirtschaftlichem Zusammenbruch in der Vergangenheit und fehlender Dynamik in der Gegenwart. Denn wenn der Niedergang chronisch wird, entsteht auch oft ein Gefühl abgehängt zu sein, gefolgt von Resignation, so die Studienautor*innen.

Was hat all das mit Integration zu tun?

„Pegida ist nur wegen Unzufriedenheit mit der Politik entstanden, es geht dabei überhaupt nicht um Ausländer. Aber es gibt das Gefühl, dass die hier einfach reinkommen und alles für sie gemacht wird“. So wird einer der Befragten aus Dresden im Teilhabeatlas zitiert. Gleichzeitig wird in der Studie auch darauf verwiesen, dass der Ausländer*innen-Anteil in stark rassistisch und xenophoben Teilen Deutschlands sehr niedrig ist.

Ein Blick auf die Bundesländer zeigt, dass Mecklenburg-Vorpommern (4,8 Prozent), Brandenburg (4,9 Prozent) sowie Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen (jeweils 5,1 Prozent) deutschlandweit den niedrigsten Ausländer*innen-Anteil aufweisen und auch deutlich unter dem Durchschnittswert Deutschlands (13,1 Prozent) liegen. Ähnlich verhält es sich auch in Bezug auf den Anteil der Schutzsuchenden an der Gesamtbevölkerung, der jedoch bundesweit nur bei 2,1 Prozent liegt. Einzig Bremen sticht mit einem – gemessen am Durchschnitt – besonders hohen Anteil von Schutzsuchenden von vier Prozent heraus.

Die von der Bertelsmann Stiftung im Rahmen des Projektes „Wegweiser Kommune“ zusammengetragenen Daten, erlauben zudem einen detaillierteren Einblick: Sie zeigen uns den Ausländer*innen-Anteil in den Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohner*innen – sofern vorhanden.

Die Karte zeigt den Ausländer*innen-Anteil in Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohner*innen – je dunkler die Farbe, desto höher ist der Anteil. Die nicht eingefärbten Kommunen verweisen auf fehlende Daten. Bewegen Sie die Maus über die jeweiligen Kommunen, um mehr Informationen zu erhalten.

Quelle: www.wegweiser-kommune.de | Bertelsmann-Stiftung

„Ich glaube, dass durch die Flüchtlingsintegration viele Probleme deutlich geworden sind, die die gesamte Gesellschaft betreffen und für die gesamte Politik wichtig sind“, erklärte Prof. Dr.in Petra Bendel in einem Interview für die Akademie für Politische Bildung Tutzing. Die Teilhabemöglichkeiten aller Menschen kann also nicht losgelöst von den Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit ausländischem Pass oder von geflüchteten Menschen verstanden werden. Es ginge darum, Regelsysteme für alle zu öffnen, damit auch die Gesamtgesellschaft profitiert, so Bendel weiter. Petra Bendel ist Vorsitzende des Sachverständigenrats für Migration. Außerdem veröffentlichte sie Anfang 2019 gemeinsam mit Hannes Schammann, Christiane Heimann und Janina Stürner die von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie „Der Weg über die Kommunen“.

Eine Studie, die – wie schon Reiner Klingholz und Stefan Krämer im Vorwort des Teilhabeatlas – für mehr Entscheidungs- und Finanzautonomie der Kommunen plädiert. „Interessant ist, dass gerade dort, wo die größte Last der Integration geschultert wird, besondere Ansätze für eine Migrations- und Integrationspolitik zu finden sind – nämlich in den Kommunen europaweit. Deswegen sollten neue und die Blockaden auflösende Konzepte in der EU-Flüchtlings- und Asylpolitik genau dort ansetzen. Doch Kommunen haben neben der europäischen und der nationalen Ebene bislang kaum Mitspracherechte in Migrationsfragen“, heißt es in der Studie.

Gefordert wird daher die finanzielle Stärkung der Kommunen, indem die Hürden und Zugänge zu bestehenden EU-Töpfen erleichtert werden, die Stärkung des Mitspracherechts der Kommunen sowie ein kommunaler Relocation-Mechanismus, der sowohl die Bedürfnisse der Kommunen als auch die Bedürfnisse der Geflüchteten miteinbezieht. Damit wird langfristig die Vielfalt der Lebensverhältnisse anerkannt und Perspektiven für die Kommunen und die Bevölkerung – unabhängig von soziodemographischen Faktoren – geschaffen.

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