Zweieinhalb Jahre ist er nun her. Der „Sommer der Migration 2015“. Über eine Million Menschen flüchteten in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa. 1,3 Millionen Menschen stellten einen Asylantrag in der EU. Weltweit waren 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Mit dem Begriff der „Flüchtlingskrise“ wurden diese Entwicklungen in Europa zusammengefasst. Laut dem Politikwissenschaftler Arne Niemann liegt die Krise jedoch nicht nur in der Zahl der Menschen, die in Europa um internationalen Schutz ansuchten, sondern im Asylsystem und Migrationsmanagement der EU.
„Was ist die eigentliche Krise?“, fragte Niemann in seinem Vortrag zur EU-Migrationspolitik seit 2015 im Rahmen der Konferenz „International Refugee Research. Evidence for Smart Policy“, die Mitte März an der Akademie für Politische Bildung Tutzing stattfand. „Laut Medien ist es die relativ hohe Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen“, so eine seiner Annahmen.
Fluchtmigration in die EU: Die Zahlen
Dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) zufolge flüchteten 2015 mehr als eine Million Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Im gleichen Jahr stellten 1,3 Millionen Menschen einen Asylantrag in der EU (Eurostat). Zahlen, die mittlerweile wieder auf einem ähnlichen Niveau wie vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“ liegen: 2017 flohen 172.301 Menschen über das Mittelmeer nach Europa, 2014 waren es 216.054. 649.855 Erstasylanträge wurden 2017 in der EU registriert, 2014 waren es 563.345.
Mit 30,5 Prozent bzw. 198.300 der knapp 650.000 Erstasylanträge suchten die meisten Personen in Deutschland um internationalen Schutz an. Danach folgen Italien (126.600 Erst-Asylanträge) und Frankreich (91.000). Setzt man die Asylanträge in Relation zur Bevölkerung, zeigt sich ein deutlich anderes Bild: So liegt Griechenland mit 5.295 Erstasylanträgen pro einer Million Einwohner*innen an der Spitze, gefolgt von Zypern (5.235 Erstasylanträge/1 Mio. Einwohner*innen) und Luxemburg (3.931 Erstasylanträge/1 Mio. Einwohner*innen). In Deutschland kommen 2.402 Erstasylanträge auf eine Million Einwohner*innen.
„Vergleichen wir die Zahlen mit anderen Zielländern, ist die Zahl der Personen, die nach Europa fliehen, nicht mehr so hoch“, erklärt Niemann weiter. So zeigt ein Blick außerhalb der EU, dass 84 Prozent der Geflüchteten, die unter den UNHCR-Verantwortungsbereich fallen, in Ländern mit geringer Wirtschaftsentwicklung Aufnahme finden. Die fünf stärksten Zielländer für Geflüchtete sind die Türkei mit 2,9 Millionen Geflüchteten, Pakistan (1,4 Millionen), der Libanon (1 Million), der Iran (980.000) und Uganda (941.000). In Relation zur Gesamtbevölkerung sind die meisten Flüchtlinge im Libanon ansässig, gefolgt von Jordanien, Nauru, der Türkei und dem Tschad (UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2016).
Vereinheitlichung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Von welcher Krise sprechen wir also tatsächlich? Eine mögliche Antwort ist in der Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu finden. Bereits im Jahr 1999 wurde der erste Grundstein für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) mit dem Tampere-Programm definiert. Mit dem Haager Programm (2004) sollte das GEAS weiter gefestigt werden, um die Asylverfahren und den Rechtsstatus der Geflüchteten unionsweit zu vereinheitlichen (siehe auch: Deutsche Migrations- und Integrationsgeschichte).
2013 wurden zudem neue Vorschriften für die Asylverfahren sowie für die Fristen zur Bearbeitung von Asylanträgen vom Europäischen Parlament verabschiedet und bis 2015 von den Mitgliedstaaten übernommen. Dies gilt insbesondere für die Regelung, wer als Flüchtling gilt (Qualifikations-Richtlinie), wie die Aufnahme und Behandlung von Asylbewerber*innen zu erfolgen hat (Aufnahme-Richtlinie) und wie die Asylverfahren geregelt sein müssen (Asylverfahrens-Richtlinie).
Und trotzdem fand laut Arne Niemann tatsächlich nur eine geringe Vereinheitlichung des GEAS statt: „Es gibt keine ausreichend vereinheitlichte Gesetzgebung auf europäischer Ebene. Die Mitgliedstaaten haben immer noch sehr viel eigenen Handlungsspielraum.“ So decken die Verordnungen und Richtlinien nur minimale Standards auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab. Viele Mitgliedstaaten haben die Gesetzesakte nur unzureichend implementiert. So wurden von der Europäischen Kommission 40 Übertretungen aufgrund unzureichender Implementierungen der EU-Asylgesetze beim Europäischen Gerichtshof angezeigt.
Auch die unterschiedlichen Anerkennungsquoten innerhalb der EU zeigen, dass die Vereinheitlichung der Asylverfahren weiter vorangetrieben werden muss. Laut der „Asylum Information Database“ reichten die Anerkennungsquoten im Jahr 2016 von 8,4 Prozent in Ungarn bis zu 89,8 Prozent in Malta. „Das hat nicht mit den Menschen zu tun, die an den Grenzen ankommen, sondern ist politisch motiviert“, sagt Arne Niemann.
Anerkennungsquoten in ausgewählten europäischen Ländern 2016, Quelle: Asylum Information Database, eigene Darstellung
EU-Migrationspolitik seit 2015
Auch als Antwort auf den „Sommer der Migration“ kamen von der Europäischen Kommission Vorschläge zu einer unionsweiten Migrationspolitik. „Viele der Vorschläge scheiterten jedoch, weil manche Mitgliedstaaten nicht zustimmten“, so Niemann.
Neben dem Schutz der EU-Außengrenze sind zwei der zentralen Maßnahmen das EU-interne Umverteilungsprogramm (Relocation) und das Umsiedelungsprogramm (Resettlement). Mit Hilfe des Relocation-Programms sollten ursprünglich 160.000 Geflüchtete aus Italien und Griechenland umverteilt werden. Bis dato konnten 33.846 Personen umverteilt werden (Stichtag: 7.3.2018). Im Zuge des Resettlements konnten 12.476 syrische Geflüchtete von der Türkei in die EU umgesiedelt werden (Stichtag 7.3.1018). Auch wenn die Verteilung der Geflüchteten langsamer vorangeht als gedacht, wurde sie zumindest von den Mitgliedstaaten akzeptiert. Nur elf Mitgliedstaaten sprechen sich hingegen für einen permanenten Verteilungsmechanismus aus, der in das neue Dublin-System implementiert werden soll.
Eine weitere zentrale Maßnahme ist die Einrichtung von Hotspots an den EU-Außengrenzen zur Erstaufnahme und Registrierung der in Griechenland und Italien ankommenden Flüchtlinge. Eine weitere Maßnahme, deren Umsetzung länger als geplant dauerte, da Ressourcen fehlen und die Asylverfahren zu lange dauern. Der EU-Türkei-Deal, der vor zwei Jahren beschlossen wurde, solle zudem sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ verhindern und die Zahl aller Geflüchteten reduzieren. Niemann bezweifelt jedoch, dass diese Maßnahme der Hauptfaktor für die Reduktion der Geflüchteten ist, da ein Rückgang bereits vor dem Deal zu beobachten war. So reagierten einzelne Länder schon vor dem EU-Türkei-Deal mit Grenzschließungen innerhalb des Schengen-Raums, auch die sogenannte Schließung der Balkanroute wurde vor dem EU-Türkei-Deal umgesetzt.
Insgesamt sei die Migrationspolitik der EU auf Sicherheitsaspekte wie den Grenzschutz oder den Kampf gegen Schlepper fokussiert. Ende des Jahres 2018 plant die EU außerdem, die Reform des GEAS zu verabschieden. Neben einer tatsächlichen Harmonisierung des GEAS sollen die nächsten Schritte der EU-Migrationspolitik Themen behandeln, die bis dato nur wenig angesprochen wurden, sagt Niemann: So gibt es innerhalb der EU fünf Länder, die zu den weltweit größten Waffenexporteuren gehören, unter anderem Deutschland. Eine entsprechende Waffenexportpolitik könne dem entgegenwirken. Auch das Thema Klimawandel müsse bei der Migrationspolitik mitgedacht werden, da er künftig ein wichtiger Fluchtgrund werden wird. Zuletzt spricht Niemann die direkte Umsiedelung mit Hilfe von Reisevisa an. Eine Maßnahme, die jedoch von den Mitgliedstaaten kritisch betrachtet wird. Die Frage, die sich künftig stellen wird, sei daher, ob die Politiker und Politikerinnen in Zeiten des Populismus eine mutige Politik machen wollen, so Arne Niemann abschließend.
Zur Person: Univ.-Prof. Dr. Arne Niemann ist seit Februar 2011 Professor für Internationale Politik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2012 hat er zudem den Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Integration inne.
Text und Gestaltung: Valentine Auer