Von Valentine Auer
Welche Person oder welche Serien-Figur hat Sie in Ihrer Kindheit beeindruckt? Auf was konnten Sie sich in Ihrer Familie verlassen? Fragen, die laut der Diskursteilnehmerin Karin Hutflötz viel über die eigenen Werte verraten, über das, was einer oder einem wichtig und wertvoll ist. Es sind Beispielfragen, die im Rahmen von Wertebildungen gestellt und erforscht werden sollten. Denn genau dahin sollte es künftig laut Karin Hutflötz gehen: Weg von einem einseitigen wie theoretischen Vermitteln der Werte an „die Anderen“, die neu nach Deutschland kommen, und hin zu einem gemeinsamen Verhandeln von Werten, nach denen wir dann auch faktisch handeln.
Fehlendes Wertebewusstsein
„Der ganze Wertehype lebt von einem verdinglichten Begriff von Werten. Als wären Werte etwas, das man wie ein Starter-Kit an Menschen geben könnte“, fasst Karin Hutflötz ihre Beobachtungen zur aktuellen Wertediskussion in Deutschland zusammen. In Integrationskursen sollen diese Werte vermittelt werden. Meistens wird dann viel über Mülltrennung oder Pünktlichkeit gesprochen, aber auch über Grundwerte wie Toleranz, Freiheit und Gleichheit. „Das Problem ist jedoch, dass diese Grundwerte mitnichten so gelebt werden. Einige europäische Staaten und leitende Politiker sprechen und handeln menschenverachtend. Gleichzeitig sagen sie, wir haben die Menschenwürde und ihr nicht. Das zeigt, dass die theoretischen Werte von Europa faktisch und handlungsleitend nicht gelten. Wir haben kaum noch ein Bewusstsein dafür, was einem selbst und was einer Gesellschaft zählt und was trägt“, fährt Hutflötz fort.
Die Folgen: Diese Art von Integrationskursen seien laut der Diskursteilnehmerin im besten Falle wirkungslos, im schlechtesten Falle führen sie zu einer Aversion gegen die angeblich „westlichen“ Werte. Karin Hutflötz ist Philosophin und leitet den Studiengang „Persönlichkeitsbildung im interkulturellen Kontext“ an der Hochschule für Philosophie in München. Sie forscht zur interkulturellen Wertebildung im Umfeld von Flucht und Migration und coacht Multiplikator*innen in diesem Bereich. Und: Sie plädiert für ein Umdenken in den Wertedebatten – weg von der Wertevermittlung und hin zu einer Wertebildung.
Sokratisches Nachfragen
Warum? Dieses Fragewort steht dabei im Zentrum einer gelungenen Wertebildung. Es gehe um eine Haltung und Methode des sokratischen NachfragensSokratische Fragen nehmen aus philosophischer Perspektive grundlegende und offene Fragestellungen in den Blick. Diese Praxis ermöglicht allen Beteiligten eine begriffliche und sachliche Klärung zu grundsätzlichen Fragen. Es hält zum selbst Denken an, indem es verlangt, sich seiner Gründe und Haltungen im Hinblick auf gemeinsame Maßstäbe, Prinzipien und Werte ausdrücklich bewusst zu werden. Dadurch fördert es wechselseitiges Verstehen, gibt Verbindlichkeit und Orientierung. : Warum ist mir Pünktlichkeit so wichtig? Warum Ordnung? Warum eigentlich Mülltrennung? Stellt man diese Fragen immer weiter, komme man auf der letzten Ebene auf tatsächliche Grundwerte, auf das, was wirklich wertvoll und wichtig ist, und alle anderen „Werte“ erst legitimiert, erklärt Hutflötz: „Wir brauchen als soziale Wesen eine gewisse Verlässlichkeit im Verhalten, eine gemeinsame Orientierung. Das muss jede Sprachgemeinschaft für sich klären. Dann hält man sich eine Zeit lang dran und wenn es brüchig oder entleerter wird, muss man diese gemeinsamen Werte neu aushandeln.“
Aus ihrer Erfahrung, weiß Hutflötz, dass nichts so viel Anerkennung schafft, als zu fragen und zu verstehen, was dem Gegenüber warum wertvoll ist – aus welchen kulturell geprägten Gründen auch immer. Ob in den Fortbildungen für Multiplikator*innen oder im Rahmen ihrer Forschung zur Wertebildung geht sie auch in Unterkünfte für Geflüchtete, um ausgehend von Wertkonflikten gemeinsame Wertebildung statt bloßer Vermittlung von Werten zu betreiben. Zentral ist es dabei, ressourcenorientiert zu arbeiten, also nach positiven Wert- und Orientierungserfahrungen zu fragen: Welche Menschen aus deinem Umfeld haben dich in deiner Kindheit beeindruckt? Welche Figuren aus Serien oder Büchern waren deine Vorbilder in der Kindheit? Auf was konntest du dich in deiner Familie verlassen? Das sind Fragen, mit denen man den tatsächlichen Werten, die einer Person wichtig sind, näherkommen kann. „Sobald man an diese Positiverfahrungen und an die dahinterstehenden Werte denkt und – noch besser – sie anderen erzählt, wird das, was einem wertvoll ist, leibhaftig und spürbar. Das ist der Unterschied zur Wertevermittlung: Man kann Werte nicht wie Vokabeln als Lernstoff vermitteln, weil man niemanden von Werten überzeugen kann, man kann sie nur bezeugen“, so Hutflötz weiter.
Kursleiter*innen und Pädagog*innen aufwerten
Damit diese Art der Wertebildung funktioniert, braucht es jedoch entsprechende Rahmen- und Grundbedingungen: Diese Form von Wertebildung muss von einer Person geleitet werden, die viel Erfahrung in der Arbeit mit Gruppen, im besten Falle eine systemische Ausbildung, interkulturelle Kompetenzen sowie eine Zusatzausbildung in philosophischer Gesprächsführung hat. Das Problem: Obwohl Integrationskurse theoretisch einen hohen Stellenwert haben und über die Rolle von nachhaltiger Wertebildung viel gesprochen und geschrieben wird, werden die Kursleiter*innen schlecht bezahlt und unter prekären Arbeitsbedingungen eingestellt. Jemand mit diesen vielfältigen Anforderungen wird daher kaum in diesen Bereich gehen und Integrationskurse leiten.
Zudem fordert Hutflötz, dass diese Auseinandersetzung mit Werten so früh wie möglich beginnt, also auch in (vor-)schulische Bildungsangebote verankert wird. Doch auch dafür wäre eine Aufwertung der Lehrer*innen und Pädagog*innen nötig und ein erweiterter Zugang zu qualitativen Fortbildungen. „In der Ausbildung bräuchte es fundierte Persönlichkeits- und Wertebildung. Der Trend geht aber in die gegenteilige Richtung. Das Pädagogik-Studium wird immer theoretischer, Selbsterfahrung und philosophische Reflexion haben keinen Platz“, weiß Hutflötz.
Eine weitere politische Weichenstellung, die sich Hutflötz wünscht, sind heterogene Gruppen in den Integrationskursen – oder Wertebildung für alle: „Wenn man den Anspruch hat, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, dann müssen wir uns zusammensetzen. Derzeit ist es so, als müssten ‚die Anderen‘ etwas lernen, was wir schon wüssten.“ So ist es aber nicht. Daher sollten 50 Prozent der Menschen in Wertebildungs-Kursen in Deutschland geboren sein oder schon länger hier wohnen. Nur so kann ein Besinnen auf Werte und eine gegenseitige Anerkennung langfristig funktionieren.