Von Valentine Auer
Die Diskursteilnehmerin Firengiz Degler unterrichtet Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (DaF/DaZ) und koordiniert für den Internationalen Bund (IB Süd) Berufsintegrationsklassen in den Landkreisen Fürstenfeldbruck und Unterschleißheim. Ihre Schüler*innen sind meist unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Dadurch übernimmt sie auch Aufgaben, für die eigentlich Eltern oder Erziehungsberechtigte zuständig sind. Degler erzählt von ihrem Schulalltag als DaZ-Lehrerin und erklärt, welche Rahmenbedingungen dazu führen könnten, diesen sowohl für sie als auch für ihre Schüler*innen zu erleichtern.
Raus aus dem Elfenbeinturm
Eigentlich hat Firengiz Degler in den 1980er Jahren Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert. Aufgrund schlechter Beschäftigungsperspektiven in ihrem Fachgebiet hat sie sich öfters umorientiert. Zuerst im Bereich Innenarchitektur und seit den frühen 2000er Jahren als Deutschlehrerin für Geflüchtete. Jahrelang hat sie als DaF/DaZ-Lehrerin Frauenkurse geleitet. Eine Zeit, in der Degler sich neu fand, wie sie erzählt: „Ich musste von meinem akademischen Elfenbeinturm absteigen. Es war eine sehr diffizile Arbeit, aber mit der richtigen Einstellung auch eine sehr schöne Arbeit.“
2014 die nächste Veränderung: Nicht mehr ausschließlich Frauen sind ihre Schülerinnen, sondern junge Erwachsene, geflüchtet und hochambitioniert – die meisten von ihnen sind minderjährige unbegleitete Geflüchtete. Bis heute. Außerdem koordiniert sie für den Internationalen Bund (IB Süd) Berufsintegrationsklassen in den bayerischen Städten Unterschleißheim und im Landkreis Fürstenfeldbruck, wo sie auch unterrichtet. „Fürstenfeldbruck ist für mich keine Arbeit, sondern eine Berufung“, kommentiert Degler ihren erneuten Berufswechsel.
DaZ-Lehrkräfte übernehmen Aufgaben der Eltern
Es ist eine Berufung, die mehr verlangt, als einzig Lehrerin zu sein. Sie ist diejenige, die die meiste Zeit mit den Schüler*innen verbringt. Degler stehen 20 Stunden pro Woche in einer einzigen Berufsintegrationsklasse zur Verfügung, während die anderen Lehrer*innen ihre Arbeitszeit auf verschiedene Klassen aufteilen. „Dadurch entsteht eine ganz andere Beziehungsebene. Oftmals stellen die Jugendlichen Fragen, die eigentlich von Eltern beantwortet werden. Aber sie haben keine Eltern, daher kommen sie zu mir“, erklärt die DaZ-Lehrerin.
Hinzu kommt, dass viele ihrer Schüler*innen traumatisiert sind. Sie haben entweder schon in ihrem Herkunftsland schlimme Dinge erlebt oder auf der Flucht, die laut Degler durchschnittlich 16 Monate dauerte. Schüler*innen aus dem subsaharischen Afrika sind mindestens 16 Monate auf der Flucht und erzählen ihr von schrecklichen Erfahrungen, die sie im Sudan oder in Libyen machen mussten, oder sie zeigen der DaZ-Lehrerin Wunden auf ihren Körpern. „Es ist eine Herausforderung, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass meine Schüler Dinge erlebt haben, die in Deutschland aufgewachsene Jugendliche nicht erlebt haben. Niemand von uns weiß, wie es sich anfühlt bombardiert, verfolgt oder beschossen zu werden“, so Degler.
Betreuung über die Schule hinaus
Weder eine DaZ-Lehrerin noch die bereits bestehenden Angebote der Schulsozialarbeit reichen daher aus, um den Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht zu werden oder gar nicht behandelte Traumatisierungen aufzufangen. Daher fordert Degler eine angemessene sozialpädagogische und psychologische Betreuung. „Gerade unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten fällt es schwer, ihr überlebensnotwendiges Fluchtverhalten gegen das eines Schülers oder einer Schülerin einzutauschen. So vergehen oft Monate, bis die Schüler*innen im Schulalltag ankommen und nachhaltig am Unterricht partizipieren“, weiß Degler aus ihrer Erfahrung.
Aber auch für bereits volljährige Schüler*innen ist der Schulalltag schwierig: Sie kommen von den Jugendhilfe-Einrichtungen in Gemeinschaftsunterkünfte und leben dort mit Alleinstehenden oder geflüchteten Familien zusammen. Menschen, die keine Perspektive haben, weil sie nicht arbeiten dürfen oder nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Die Nacht wird in diesen Unterkünften oft zum Tag und die Schüler*innen kommen nicht zur Ruhe, können nicht schlafen und müssen trotzdem am darauffolgenden Tag funktionieren.
Alles Gründe, wieso die Vorgabe der Berufsintegrationsklassen von ein bis zwei Jahren zu ambitioniert ist. Zudem müsse die sozialpädagogische Betreuung auch über die Schule hinausgehen. „Unsere Schüler müssen in zwei Jahren das lernen, was deutsche Schüler in neun oder zehn Jahren lernen. Und dann sind sie mit dem Ende der Berufsintegrationsklassen erstmal sich selbst überlassen. Sie brauchen aber jemanden, der ihnen rechtzeitig sagt, was die nächsten Schritte sind. Auch das sind Dinge, die normalerweise Eltern machen“, erklärt die DaZ-Lehrerin. Daher benötige es dringend eine weitergehende Unterstützung und vermittelnde Gespräche zwischen den Schüler*innen, den Ämtern, Behörden, Berufsschulen und den Ausbildungsbetrieben. Durch eine Anschlussförderung erhöhen sich die Chancen einer erfolgreichen Berufsausbildung und damit die Chance einer langfristigen Inklusion.
Good-Practice-Beispiel:
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwaben zeigt laut Degler vor, wie eine Berufsausbildung mit zielgerichteter Unterstützung gelingen kann. Die Abbruchquote der Azubis mit Fluchthintergrund liegt im Projekt der IHK Schwaben “Junge Flüchtlinge in Ausbildung” bei 8,1 Prozent, während diese im Bundesdurchschnitt bei 25 Prozent liegt, unter Migrant*innen sogar bei 33 Prozent. Eine Evaluation der Hochschule Neu-Ulm (HNU) führt diese geringe Abbruchquote auf die gute Betreuung zurück, drohende Abbrüche können durch sprachliche und fachliche Unterstützung (auch in sozialen Belangen) abgefangen werden, heißt es im Abschlussbericht der Evaluation. Eine bayernweite Ausdehnung dieses Ansatzes kommt allen Auszubildenden mit Förderbedarf – und zwar unabhängig von ihrer Herkunft – zugute und könnte die Abbruchquote landesweit verringern.