„Integration ist eine Realität der menschlichen Existenz“

10 Aug 2018
„Integration ist eine Realität der menschlichen Existenz“
"Es gibt eine Realität der Diversität, in die müssen wir uns integrieren. Das müssen wir akzeptieren und wir müssen akzeptieren, dass Menschen für ihre Rechte aufstehen und Forderungen stellen", sagt Bürgermeister von Mechelen Bart Somers, Copyright: Sebastian Haas

Bart Somers. Seit 2001 ist er Bürgermeister der belgischen Stadt Mechelen. Sein Ziel: Die 90.000 Einwohner-Stadt zu einer inklusiven Stadt zu machen. Um das zu erreichen, setzt er auf Law & Order-Politik ebenso wie auf eine offene Diversitäts-Politik. Der Tutzinger Diskurs war zu Besuch bei Bart Somers. Ein Gespräch über Chancen der Diversität, über Möglichkeiten Segregation zu verhindern, und über die Tatsache, dass wir uns alle permanent integrieren müssen.

Können Sie zu Beginn kurz ein Bild von der Stadt Mechelen zeichnen?

Mechelen ist eine Stadt mit knapp 90.000 Einwohnern und 138 unterschiedlichen Nationalitäten. 32 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. 52 Prozent der Kinder, die im vergangenen Jahr in Mechelen geboren wurden, haben einen Migrationshintergrund. 20 Prozent der Einwohner sind Muslime. Damit leben in Mechelen mehr Muslime als in der Slowakei und Ungarn zusammen. Wir schätzen aufgrund der Herkunftsländer, dass 20.000 Muslime hier leben.

Würde ich zum Beispiel Donald Trump die Stadt so beschreiben, würde er Mechelen wohl als eine Stadt der Verzweiflung und des Verfalls bezeichnen. Wenn man aber hier ist, sieht man, dass es nicht so ist. Auch die Daten zeigen das: Die Region Flandern vergleicht in einer Studie Städte wie Leuven, Brügge, Gent oder eben Mechelen. In den 90er Jahren war Mechelen noch eine kriminelle Stadt mit vielen Problemen. Das Vertrauen in die lokale Regierung war im Vergleich zu den anderen Städten mit Abstand am niedrigsten. Die Kinderarmut war die zweithöchste. Jedes dritte Geschäft stand leer. 2004 erhielt die rechtsextreme Partei Vlaams Belang 32 Prozent der Stimmen.

Der letzte Bericht wurde dieses Jahr veröffentlicht. Das Ergebnis: Das Vertrauen in die lokale Regierung in Mechelen ist heute bei Weitem am höchsten. Wir sind die einzige Stadt, in der die Kinderarmut abnimmt, und haben heute die drittniedrigste Kinderarmut. Die Financial Times vergleicht zweijährlich die Städte der Zukunft. Bei den Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern ist Mechelen laut der Financial Times die beste Stadt Europas, um zu investieren.

In der 90.000 Einwohner Stadt Mechelen leben 138 unterschiedliche Nationalitäten. Foto: Valentine Auer

Das sind tolle Zahlen. Um Diversitätspolitik umzusetzen, braucht es jedoch Kapital. Durch welche ökonomischen Faktoren oder Wirtschaftspolitik kann Mechelen diese Politik umsetzen?

Dem stimme ich nicht zu. Es geht darum, harte Entscheidungen zu treffen. Wir konnten sogar die Steuern senken. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde Mechelen sehr attraktiv für junge Menschen. Und das ist wiederum attraktiv für Unternehmen. Der Grund dafür ist, dass Mechelen sehr zentral liegt, dass viele nicht in großen Städten wie Brüssel oder Antwerpen leben wollen. Aber Mechelen ist auch ein schöner Ort, um Kinder großzuziehen, aufgrund unserer Politik. Dafür braucht es mehr als Diversitätspolitik, aber der Fokus auf Diversität ist zentral.

Vor drei Jahren siedelte sich ein multinationales, japanisches Unternehmen in Mechelen an: Nipro, ein großes Unternehmen, das auf Pharmazie spezialisiert ist. Das Hauptquartier für Europa, den Mittleren Osten und Afrika ist in Mechelen. Dort arbeiten 150 Menschen. Zusätzlich kommen 10.000 Spezialisten und Doktoren für ein paar Tage nach Mechelen, um sich schulen zu lassen. Diese Menschen schlafen in Hotels in Mechelen, essen in den Restaurants und bringen Souvenirs für ihre Familie nach Hause. Das bringt Geld. Der CEO von Nipro erklärte mir, dass sie nach Mechelen kamen, weil wir erstens zentral liegen und zweitens weil sie unseren Ansatz in der Diversitätspolitik begrüßen. Diversität wird in vielen Branchen als Mehrwert verstanden. In einer positiven Umgebung wird Diversität zur Quelle von Kreativität, in einer negativen Umgebung wird es zur Quelle von Frustration.

Welche rechtlichen Hindernisse mussten Sie in diesem Prozess überwinden?

Viele! Viele Menschen glaubten zu Beginn, dass ich verrückt wäre. Mittlerweile sind wir die Vorbildstadt in Flandern, weil wir sehr kreativ sind und Neues ausprobieren. Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben eine Art „Steuer-System“ eingeführt. Wenn ein Jugendlicher etwas falsch macht, nehmen wir ihn mit in die Polizeiinspektion. Die Eltern haben dann die Möglichkeit entweder 50 Euro für diese Kosten zu zahlen oder sie unterschreiben einen Vertrag. Gemeinsam mit einem Polizisten, einem Sozialarbeiter, dem Jugendlichen und den Eltern sprechen wir darüber, dass wir Geld und Energie reinstecken wollen, damit wir den Jugendlichen und die Familie unterstützen. Wenn die Eltern uns dabei helfen, müssen sie die 50 Euro nicht zahlen. Stattdessen gibt es einen Vertrag für sechs Monate in dem wir den Jugendlichen und die Eltern bitten etwas zu machen – sei es ein Hobby zu finden, pädagogische Unterstützung, die wir zahlen, aufzusuchen oder das Kind von der Schule abzuholen. 99 Prozent der Eltern unterzeichnen den Vertrag und die Rückfälligkeitsrate ist extrem gering. Wir versuchen neue Lösungen zu finden, und zwar praktische Lösungen und nicht nur theoretische Überlegungen. Das System wurde mittlerweile für kleine Vergehen in ganz Belgien übernommen und ist rechtlich verankert

Wie ist die Diversität im Arbeitsleben verankert? Gibt es hier Richtlinien wie zum Beispiel Quoten?

Nein, wir glauben nicht an positive Diskriminierung. Wir glauben an positive Handlungen. Und wir wollen weg vom Denken in Gruppen. Es gibt zwei Sachen, die eine Gesellschaft zerstören: Gruppendenken und Segregation. Unser Geld und unsere Energie stecken wir daher in Orte, an denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen gemeinsam leben, gemeinsam Sport machen, gemeinsam zur Schule gehen oder gemeinsam arbeiten. Sowohl linke als auch rechte Politiker denken zu stark in Gruppen. Laut den Rechten missbrauchen alle Migranten das Sozialsystem und sind auch noch kriminell und laut den Linken sind alle Migranten Opfer und hatten nicht genug Möglichkeiten in ihrem Leben.

Wenn ich mir jedoch die „marokkanische Community“ in Mechelen anschaue, dann sehe ich Menschen, die im Gefängnis, und Menschen, die bei der Polizei sind. Ich sehe Menschen, die Drogen verkaufen, und Menschen, die sich um Drogensüchtige kümmern. Ich sehe einen Wirtschaftsprofessor, Ärzte, Unternehmer. Ich sehe Menschen, die jeden Tag in die Moschee gehen und ich sehe Menschen, die nie in die Moschee gehen – und alles dazwischen. Diese Gruppe zu kategorisieren, wird den einzelnen Personen nicht gerecht. Wir verschließen dabei nicht die Augen vor Diskriminierung, weil Gruppendenken die Basis für Diskriminierung und Rassismus ist. Dagegen will ich ankämpfen.

Ein großes Problem gibt es aber zum Beispiel in der Polizei. Dort arbeiten zu wenig Migranten, weil nicht wir, sondern der Bund die Polizisten einstellt. Gerade die Polizei sollte die Gesellschaft abbilden und repräsentieren. Das ist derzeit nicht so, nur drei oder vier Prozent Migranten arbeiten bei der Polizei. Das ist zu wenig. Es gibt also durchaus noch viel zu tun. Mechelen ist kein Paradies, überhaupt nicht. Wir haben viele Probleme, aber wir wollen gegen Segregation, gegen Gruppendenken und gegen Diskriminierung ankämpfen.

Bürgermeister von Mechelen Bart Somers
“Es ist als gäbe es nur ein Kilogramm Freiheit, das verteilt werden muss. Heute fordern Migranten ihre Rechte ein und die Reaktion ist die Gleiche wie bei den Konservativen vor 100 Jahren in Bezug auf Arbeiterrechte, vor 50 Jahren bezüglich der Frauenrechte oder vor 30 Jahren in Bezug auf LGBT-Rechte. Traditionen auf Basis fundamentaler Werte zu ändern bedeutet Werte zu schützen.” (Foto: Sebastian Haas)

Wie wirkt die Stadt Mechelen der Segregation konkret entgegen?

Wir machen das zum Beispiel im Schulbereich: Familien ohne Migrationshintergrund entscheiden sich oft gegen eine Schule im Viertel, damit ihr Kind nicht das Einzige ohne Migrationshintergrund dort ist. Diese Eltern wollen nicht, dass ihr Kind zum „Sozial-Experiment“ wird. Außerdem haben sie Angst, dass die Qualität der Schule nicht besonders hoch ist, weil manche Kinder noch nicht so gut niederländisch sprechen. Daher haben wir die Organisation „School in Zicht“ gegründet, die Eltern aus einer Nachbarschaft zusammenbringt und mit ihnen spricht. Das Ziel: Es sollen mehr Eltern ihre Kinder ohne Migrationshintergrund in eine bestimmte Schule schicken. Dadurch wären diese Kinder nicht mehr die einzigen ohne Migrationshintergrund. Und es wird den Eltern garantiert, dass die Schule eine hohe Qualität haben wird. In drei Jahren konnten wir so vier Schulen, die hauptsächlich von Migranten besucht wurden, zu breit gemischten Schulen machen. 183 Familien wechselten die Schule. Nun versuchen wir dasselbe bei Schulen, die hauptsächlich von nicht-migrantischen Kindern besucht werden.

Ein weiteres Beispiel ist, dass wir in „arme Viertel“ investieren. Wir haben die Straßen dort sicher und sauber gemacht, Parks und Community-Zentren gebaut. Der Wert dieser Gegend stieg. Das hatte zwei Folgen: Erstens besitzen viele Menschen in Belgien Eigentumswohnungen. Die Migranten, die in dieser Nachbarschaft eine Wohnung oder ein Haus kauften, freuen sich, weil sich der Wert ihres Eigentums verdoppelt hat. Gleichzeitig ziehen mehr Menschen aus der Mittelschicht dorthin – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Die Universität Leuven untersuchte zwei Stadtviertel in Mechelen, die sich auf diese Art veränderten, und zeigte, dass die Mittelschicht oft als Sozialarbeiter fungiert. Sie beginnen, die Nachbarschaft wieder näher zusammenzurücken, organisieren zum Beispiel eine Party und laden alle dazu ein. Die Menschen kommen wieder vermehrt ins Gespräch.

Zu Beginn sagten Sie, dass Sie gegen Gruppendenken sind. Jetzt haben Sie aber viel über Gruppen gesprochen, über Migranten und Nicht-Migranten, über die Mittelschicht oder arme Familien. Mein Eindruck ist, dass Sie diese Kategorien sehr wohl noch brauchen, um Segregation zu verhindern.

Ja, aber ich denke trotzdem, dass jedes Individuum einzigartig ist. Ich gebe wieder ein Beispiel: In Mechelen gibt es den Jugendclub ROJM, der schon seit 50 Jahren besteht. Er hat als marokkanischer Jugendclub begonnen. In den 60er und 70er Jahren hat sich niemand um die marokkanischen Jugendlichen gekümmert, daher begannen sie sich selbst zu organisieren. Das Konzept des Jugendclubs war, dass sie die Kinder und Jugendlichen in ihrer Identität stärken wollen, um sich in der Gesellschaft wohlzufühlen und sich dann integrieren zu können. Das Konzept war toll und der Jugendclub hat sehr viel Gutes für unsere Stadt gemacht. Aber trotzdem gab es einen negativen Aspekt. Ich überspitze jetzt ein wenig: Es gab ein Poster einer Moschee hier, weil alle Marokkaner muslimisch sind, so wie alle Belgier katholisch sind. Man konnte keinen Alkohol trinken, weil alle Marokkaner keinen Alkohol trinken, so wie alle Belgier nur Alkohol trinken. Es gab nur marokkanische Musik, weil alle Marokkaner diese Musik hören, so wie alle Belgier nur Schlagermusik hören. Das führt dazu, dass du dich nur im Jugendclub zu Hause fühlst, aber nicht im Rest der Stadt. Irgendwann klopften syrische Flüchtlinge an die Tür des Jugendclubs und wollten auch kommen. ROJM ist ein Club für Migranten, wieso also nicht. Aber es waren auch Christen dabei, die vom Islam flüchteten. Sie wollten auch ein Poster einer Kirche, sie wollten Bier trinken oder Weihnachten feiern. Und das hat den Jugendclub – gemeinsam mit unserer Unterstützung – geöffnet.

Ich kann meine Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass es Menschen mit einem marokkanischen Hintergrund gibt und dass sie auch stolz darauf sind. Man kann Marokkaner, Belgier und Bürger von Mechelen zugleich sein. Wichtig ist aber, dass jede und jeder selbst definiert, was es bedeutet Marokkaner zu sein und die Definition nicht von jemand anderem kommt.

Somers in Mechelen, Copyright: Sebastian Haas
“In einer positiven Umgebung wird Diversität zur Quelle von Kreativität, in einer negativen Umgebung wird es zur Quelle von Frustration.” (Foto: Sebastian Haas)

Wie würden Sie Ihren politischen Zugang oder Unterbau beschreiben, im Rahmen dessen Sie all diese Maßnahmen umsetzen?

Heute gibt es – ich nenne es – „Salafisten des Westens“, oder in Deutschland die Heimat-Politiker. Sie wollen ihre Art zu leben, ihre Traditionen nicht ändern. Damit frieren sie die Gesellschaft ein. Das hat nichts mit dem Verteidigen von Werten zu tun, sondern mit dem Zerstören von Werten. Unsere Gesellschaft basiert auf dem Konzept der Freiheit, das ist ein fundamentaler Wert. Die Leute behaupten zum Beispiel, dass Frauen, die ein Kopftuch tragen, nicht frei sind und ihre Freiheit daher verteidigt werden muss. Aber das hat doch nichts mit der Verteidigung von Freiheit zu tun. Das ist totalitäres Denken: Wenn du dich nicht so wie ich verhältst, bis du nicht frei. Es gibt so viele Gründe, wieso eine Frau ein Kopftuch trägt. Ja, einer dieser Gründe kann auch sozialer Druck sein, aber es kann auch mit Stolz zu tun haben, mit der Religion, damit, dass man Teil einer Gruppe sein will oder dass man gegen das negative Bild des Islams in Medien protestieren will.

Die Attraktivität unserer offenen Gesellschaft ist, dass sie sich andauernd ändert, weil die Traditionen nicht mehr mit unseren Werten übereinstimmen. An einem bestimmten Punkt sind Frauen aufgestanden und forderten das Wahlrecht oder das Recht auf Arbeit– auf Basis fundamentaler Werte. Die Reaktion der Männer: Wir werden unsere Traditionen nicht wegen euch ändern. Das gleiche bei LGBT-Rechten. Rund um die Diskussion zur Ehe für Schwule und Lesben kamen Menschen zu mir, weil sie Angst hatten, dass ihre Ehe so an Wert verlieren würde. Oder als die Arbeiterklasse ihr Wahlrecht einforderte, hatte die Bourgeoisie Angst, ihre Rechte zu verlieren. Es ist als gäbe es nur ein Kilogramm Freiheit, das verteilt werden muss. Heute fordern Migranten ihre Rechte ein und die Reaktion ist die Gleiche wie bei den Konservativen vor 100 Jahren in Bezug auf Arbeiterrechte, vor 50 Jahren bezüglich der Frauenrechte oder vor 30 Jahren in Bezug auf LGBT-Rechte. Traditionen auf Basis fundamentaler Werte zu ändern bedeutet „westliche Werte“ zu schützen.

So blicken wir auch auf unsere Stadt. Unser Zugang besteht aus viel mehr als nur aus ein paar Methoden, es geht darum, Diversität als normal zu betrachten. Das bedeutet auch, dass wir uns alle integrieren müssen. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen, dass Neuzugewanderte sich in unsere Gesellschaft integrieren müssen. Integration ist eine Realität der menschlichen Existenz: Bildung ist eine Art Integration in die Gesellschaft. Als ich Vater wurde, musste ich mich in die Rolle als Vater integrieren. Als soziale Medien stark wurden, musste ich mich in diese neue Realität integrieren. Jetzt gibt es eine Realität der Diversität, in die müssen wir uns ebenfalls integrieren. Das müssen wir akzeptieren und wir müssen akzeptieren, dass Menschen für ihre Rechte aufstehen und Forderungen stellen.

 

Transkript, Übersetzung & Aufbereitung: Valentine Auer

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