Entwicklungslinien der Gesundheitskompetenz

30 Nov 2018
Entwicklungslinien der Gesundheitskompetenz
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Von Valentine Auer

Health Literacy oder auch Gesundheitskompetenz: Ein Begriff, der in Zeiten von Digitalisierung und Big Data neue Bedeutungsebenen erhält. Aber woher stammt der Begriff der Health Literacy? Wie wurden Gesundheitsförderung und -kompetenz früher und wie heute verstanden? Wie haben sich die Bedeutungen verändert? Welche neuen Handlungsfelder und welcher Handlungsbedarf ergeben sich durch die Digitalisierung? Ein kurzer Abriss über einen umstrittenen Begriff.

 

Gesundheitsförderung: Von der Sanitärversorgung bis zum Wellness-Paradigma

Zwischen 1830 und 1890 wurden vermehrt Maßnahmen zur Gesundheitsförderung ergriffen, die mit schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, ganz konkret auch mit der Abfall- und Abwasserentsorgung („sanitation paradigm“), verbunden wurden. Der soziale Kontext, aber auch Umwelteinflüsse wurden erkannt,  durch eine verbesserte Sanitärversorgung versuchte man, die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern.

Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere zwischen 1890 und 1910, konnten die ersten Krankheitserreger identifiziert werden. Dadurch rückt die medizinische Versorgung einzelner Individuen und das Stoppen von Krankheitsübertragungen in den Fokus („bacteriological paradigm“).

Ende des 20. Jahrhunderts lag der Fokus zunehmend auf chronischen Krankheiten. Damit wurde es auch wichtiger, ein Bewusstsein für die Risikofaktoren durch die Veränderung des Lebensstils zu schaffen. Insbesondere ab 1960 wurden Kampagnen gestartet, deren Ziel es nicht war, Krankheiten zu bekämpfen, sondern Gesundheit zu erhalten und zu stärken. Damit wurde an die Eigenverantwortung der Bevölkerung appelliert („wellness paradigm“).

Gesundheitskompetenz: Von der funktionalen bis zur kritischen Gesundheitskompetenz

„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“, heißt es in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, die 1986 bei einer ersten internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung, organisiert von der WHO, verabschiedet wurde. Health Literacy wurde als solche zwar nicht benannt, jedoch wurde das Konzept in der Charta bereits angedacht.

1998 fand der Begriff Health Literacy Eingang in den „Health Promotion Glossary“ der WHO. Die Definition vereinte neben der Lesefähigkeit und dem Verstehen von Gesundheitsinformationen auch kognitive und soziale Fähigkeiten, um die Informationen in der Praxis anwenden zu können. Eine Definition, die auf erste zentrale Theorien zur Health Literacy aufbaut. Wie zum Beispiel jene von Don Nutbeam (Outcome Model for Health Promotion, 1998)), der drei Ebenen der Gesundheitskompetenz identifizierte: Als funktionale Gesundheitskompetenz versteht er die Fähigkeit, lesen und schreiben und damit Gesundheitsinformationen verstehen zu können. Die interaktive Gesundheitskompetenz beschreibt die Möglichkeit, Gesundheitsinformationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen, sich aktiv mit diesen auseinanderzusetzen und sie umsetzen zu können. Verfügen Nutzer*innen auch über die Fähigkeit, diese Informationen reflektieren zu können, geht es um die dritte Ebene der kritischen Gesundheitskompetenz. Laut Nutbeam würden diese drei Ebenen in aufsteigender Reihenfolge zu größerer Autonomie und persönlichem Empowerment befähigen.

Wie Gesundheitskompetenz Ungleichheiten verstärken könnte

Seitdem gibt es verschiedene theoretische Ansätze, die sich mit dem Begriff der Health Literacy beschäftigen und damit nicht ausschließlich Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns verbinden, sondern auch auf die mögliche Verstärkung sozialer Ungleichheiten verweisen. Die Politikwissenschaftlerin Ilona Kickbusch („Health literacy: a search for new categories”) zum Beispiel setzte 2001 Health Literacy in einen globalen Kontext und verwies dabei auf den weltweiten Analphabetismus und den Zugang zum Internet, der global ungleich verteilt ist. Dabei hinterfragt sie nicht nur, ob der Zugang zu notwendigen Informationen für alle gegeben ist, sondern auch, ob Nutzer*innen tatsächlich die Fähigkeiten besitzen, diese Informationen im Alltag anwenden zu können. Der Soziologe und Professor für „Public Health“ Thomas Abel wiederum verbindet Gesundheitsförderung und Health Literacy mit dem Konzept des kulturellen Kapitals (nach dem Soziologen Pierre Bourdieu). Health Literacy biete Chancen, soziale Ungleichheiten zu verringern, gleichzeitig bestehe aber auch die Gefahr, diese zu verstärken, da soziale und kulturelle Partizipation nicht für alle Menschen gegeben sind. Um Gesundheitskompetenz und damit selbstgesteuertes Handeln zu fördern, müssen – so Abel – auch die Partizipationsmöglichkeiten aller verstärkt werden. Die US-amerikanischen Wissenschaftler*innen Allison M. Panzer, David A. Kinding und Lynn Nielsen Bohlman entwickeln im Text „Health Literacy: A Prescription to End Confusion“ ein Modell, das Health Literacy als die Interaktion des Individuums mit dem Bildungs- und dem Gesundheitssystem sowie mit sozialen und kuturellen Einflüssen versteht. Auch hier wird kritisiert, dass die gestellten Anforderungen an Patient*innen höher sind als ihre tatsächlichen Fähigkeiten in diesem Bereich – auch unterschiedliche kulturelle Hintergründe müssten stärker fokussiert werden, weil diese auch darüber entscheiden, wie Gesundheit und Krankheit wahrgenommen werden.

(Digitale) Gesundheitskompetenz in Deutschland

In Deutschland spielt die Verbesserung von Gesundheitsinformationen insbesondere seit Anfang der 2000er eine Rolle: So wurde zum Beispiel im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 die unabhängige Patienteninformation und –-beratung ausgebaut, zwei Jahre später wurden trägerübergreifende Informationen und Beratungen im Rehabilitationssektor geschaffen und 2008 Information und Beratung im Pflegebereich ausgebaut.

Seit einigen Jahren ist die digitale Gesundheitskompetenz in Deutschland im Fokus vielfältiger Studien. Auch der Sachverständigenrat (SVR) für Verbraucherfragen hat sich 2016 mit eHealth und den damit verbundenen Chancen, aber auch mit Risiken beschäftigt. So sei durch die Möglichkeit vernetzter Erhebungen und der Anwendung der Gesundheitskarte mehr Patientensicherheit gegeben, da Ärzten und Ärztinnen Behandlungsinformationen der Patient*innen zugänglich sind. Gleichzeitig können dadurch Überdiagnosen und Überbehandlungen vermieden werden. Auch die neuen Gesundheits-Apps, also Techniken der Selbstvermessung, bergen das Potential präventiv zu agieren: Überschreitungen von bestimmten Grenzwerten könnten so frühzeitig und unabhängig von Arztbesuchen erkannt werden. Um all diese Chancen wahrnehmen zu können, braucht es – so der SVR weiter – dringend eine Stärkung der Gesundheitskompetenz. Insbesondere bei Gesundheits-Apps gilt es, die Daten auch zu verstehen und falsche Alarme einschätzen zu können. Fehlt die Gesundheitskompetenz, wären Folgen das Verbreiten unnötiger Angst und damit auch eine Belastung des Gesundheitssystems durch Überdiagnose und Überbehandlung. Als ebenfalls zentral erachtet der SVR einen transparenten Umgang mit den erhobenen Daten, um Datenschutz zu gewährleisten.

Auch der „Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz“, der im Februar 2018 präsentiert wurde, plädiert dafür, die digitale Gesundheitskompetenz zu fördern. Als eine der aktuellen Herausforderungen im Bereich der Gesundheitskompetenz wird die Informationsflut genannt. In einer der Handlungsempfehlungen heißt es daher, dass der Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien und in gesundheitsbezogenen und medizinischen Apps erleichtert werden müsse. Hier benötige es einen Überblick über den tatsächlichen Nutzen und die Qualität der immer mehr werdenden Angebote. Gleichzeitig müssten Gesundheitsinformationen nutzerfreundlich gestaltet werden. Die Möglichkeiten der Digitalisierung sollten genutzt werden, um Gesundheitsinformationen für unterschiedliche Gruppen und deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Auch kulturelle Diversität sollte miteinbezogen werden, um keine bestehenden Diskriminierungen und Exklusionsmechanismen zu reproduzieren.

 

Anmerkung: Weder die Timeline noch der Artikel erheben Anspruch auf Vollständigkeit, sondern betrachten einzelne Schlaglichter und Entwicklungslinien im Bereich der Gesundheitsförderung und der Gesundheitskompetenz.

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