Von Valentine Auer
Der Ethnologe Simon Goebel will weg von einer defizit-orientierten Debatte über Integration und hin zu einem Inklusions-Verständnis, das jede*n selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben lässt. Dass das in der Theorie einfacher ist als in der Praxis, ist ihm dabei klar. Eine Entmigrantisierung in der Migrationsforschung wäre jedoch ein erster Schritt, dem eine Entmigrantisierung in den Integrationsdiskursen folgen sollte.
Von der Integration zur Inklusion
Es gibt eine Gruppe. Seien es Türk*innen, Araber*innen oder – auch mal weniger spezifisch – die Geflüchteten oder die Migrant*innen und diese gilt es, in die Gesellschaft zu integrieren. So nimmt der Diskurs-Teilnehmer und Ethnologe Simon Goebel die derzeitige Integrationsdebatte im öffentlichen Diskurs wahr. Die Gruppen werden homogen betrachtet und es komme zu einer Trennung in „wir“ und „die Anderen“, letztere werden meistens defizit-orientiert betrachtet. „Ich glaube jedoch, dass weder die eine noch die andere Gruppe in sich gleich ist. Gesellschaften sind extrem heterogen. Es gibt nichts, was sich alle Personen, die als deutsch bezeichnet werden, teilen. Nicht mal die Staatsangehörigkeit. Jemand, der sich als deutsch bezeichnet, vielleicht in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, kann trotzdem eine andere Staatsangehörigkeit haben. Daher halte ich von diesen Konstruktionen nichts“, erklärt Goebel.
Stattdessen müssten diese Gruppen und die damit einhergehende Homogenisierung aufgebrochen werden. Am besten indem man über Individuen spricht, über einzelne Personen – und damit den Inklusions-Begriff anwendet. Ein Begriff, der durch die UN-Behindertenkonvention erstmals populär wurde und auch heute oft noch mit Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht wird. Der Ethnologe wünscht sich jedoch, dass der Begriff auf alle Menschen bezogen wird: „Es geht darum, zu fragen, was passieren muss, damit ein Individuum selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben kann“.
Die Fokussierung auf Individuen schließt laut Goebel jedoch nicht die Etablierung von neuen Kategorien aus. Kategorien, die quer zu den bestehenden Kategorien liegen. Zum Beispiel in puncto Sprache: „Es gibt in Deutschland rund zwei Millionen totale Analphabet*innen, die haben sicher nicht alle einen Migrationshintergrund. Lenken wir den Blick darauf, müssen wir das Thema Sprachkurse ganz anders angehen – nämlich herkunftsunabhängig“.
Von der Theorie zur Praxis
Erste Ansätze herkunftsunabhängiger Kategorien liefert auch das Konzept der „Entmigrantisierung“ der Migrationsforschung: Ging es bis dato in der Migrationsforschung um die Betrachtung spezifischer Gruppen (bspw. in der Gastarbeiter*innen-Forschung oder in der Asyl- und Flüchtlingsforschung), ermöglicht eine Entmigrantisierung einen umfassenden Blick auf unterschiedliche Lebensrealitäten. Auf Lebensrealitäten, die mit der Herkunft gar nichts zu tun haben müssen, so Goebel: „Denn ein Mensch ist nie nur Migrant*in. Im politischen Engagement, im Arbeits- oder im Vereinsleben ist die Herkunft vielleicht völlig irrelevant“.
Den „methodologischer Nationalismus“Laut der Anthropologin Nina Glick-Schiller ist der methodologische Nationalismus eine wissenschaftliche, aber auch in Politik und Öffentlichkeit verbreitete Perspektive, 'die sich sozialen und historischen Prozessen annähert, als ob diese innerhalb abgeschlossener nationalstaatlicher Grenzen stattfänden.' (In: Das transnationale Migrationsparadigma: Globale Perspektiven auf die Migrationsforschung.), der immer wieder dieselben Kategorien reproduziert und verfestigt, gilt es also zu überwinden. Statt der Migrationsforschung solle eine Gesellschaftsforschung betrieben werden: „Dadurch verschwinden die Menschen, die migriert sind, nicht. Sie werden als normal mitgedacht und nicht mehr als abweichend von einer Norm verstanden“, erklärt Goebel.
Als Referent des „Bayerischen Netzwerks für Beratung und Arbeitsmarktvermittlung für Flüchtlinge“ (BAVF II) ist ihm durchaus bewusst, dass eine herkunfts- und gruppenunabhängige Betrachtung nicht immer vermeidbar ist. Er selbst muss mit der Vorannahme agieren, dass Geflüchtete eine spezielle Integration in den Arbeitsmarkt brauchen. Durch politische und rechtliche Rahmenbedingungen wird es notwendig zwischen Asylbewerber*innen, anerkannten Geflüchteten und Geduldeten zu unterscheiden, da für alle der Arbeitsmarktzugang anders geregelt ist.
„Das sind alles hochproblematische Kategorien, weil damit Selektionsmechanismen vorangetrieben werden, die gerade das Gegenteil von gesellschaftlicher Teilhabe zum Ziel haben. In diesem Spannungsfeld arbeite ich. Ich kann nicht auf diese Kategorien verzichten. Ich kann versuchen sie zu kritisieren und zu dekonstruieren, aber ich muss sie in meiner Arbeit verwenden“, erklärt Goebel die Ambivalenz zwischen Theorie und Praxis.
Eine tatsächliche Umsetzung der Theorie in der Praxis funktioniere laut Goebel nur durch eine Änderung der Gesetzgebung und der bestehenden Strukturen. „Und das ist ein langsamer Prozess, auf den Menschen aus der Forschung und Menschen aus der Praxis nur begrenzten Einfluss haben“, so Goebel.