„Die Realität undokumentierter Arbeit betrifft uns alle“

18 Okt 2018
„Die Realität undokumentierter Arbeit betrifft uns alle“
Eva María Jiménez Lamas (zweite von rechts) und undokumentierte Arbeiter*innen, die als Aktivist*innen tätig sind, Copyright: CSC Bruxelles

Von Valentine Auer

Es ist ein riesiger Bürokomplex. Kein Wunder, es handelt sich um die größte Gewerkschaft Belgiens, die Confédération des Syndicats Chrétiens (CSC). Im letzten Stock des Bürogebäudes befindet sich ein kleines Zimmer. Es ist vollgestellt mit unterschiedlichsten Unterlagen, kaum ein Zentimeter Platz findet sich auf dem vergleichsweise großen Tisch. An der Wand ein Poster von der Bürgerrechtlerin Angela Davis. „I don’t accept the things, I cannot change. I change the things, I cannot accept“, heißt es dort. In diesem chaotisch-aktivistischen Raum arbeitet Eva Maria Jiménez Lamas. Sie leitet die CSC-Abteilung, die sich um undokumentierte Arbeiter*innen in Belgien kümmert. Ihr Ziel: Die Selbstorganisation und das Empowerment der undokumentierten Arbeiter*innen, die zu einem großen Teil Migrant*innen beziehungsweise „sans papier“ sind. Im Interview erzählt sie von den Herausforderungen in ihren täglichen Kämpfen und fordert mehr Schutz und Anerkennung für undokumentierte Arbeiter*innen.

Es gibt Schätzungen, dass in Belgien mehr als 100.000 undokumentierte Arbeiter*innen leben. In welchen Branchen sind diese hauptsächlich tätig?

Das unterscheidet sich je nach Geschlecht. Frauen arbeiten oftmals im Betreuungs-, Pflege- und Haushaltssektor – von der Hausreinigung über die Kinderbetreuung bis hin zur Pflege älterer Personen. Auch wenn Frauen, die migriert sind, eine höhere Qualifikation mitbringen, werden sie in Europa oftmals als Putzfrauen oder Pflegerinnen wahrgenommen. Das zeigt sich auch in der sogenannten „globalen Betreuungskette“: Immer mehr Frauen in den Industriestaaten arbeiten oftmals den ganzen Tag, daher haben sie keine Zeit für die Kinderbetreuung oder für das Putzen des Hauses. Anstatt sich diese Arbeiten mit dem Ehemann zu teilen, suchen sie sich dafür oftmals eine migrantische Frau. Das ist leider immer noch eine Realität, die auf Geschlechterstereotypen aufbaut. Gleichzeitig decken Migrantinnen den erhöhten Bedarf an Pflege- und Reinigungsdienstleistungen in Institutionen. Die Kinder dieser Migrantinnen und undokumentierten Arbeiterinnen werden wiederum von Geschwistern, Müttern und Töchtern – oftmals im Herkunftsland – betreut. Die „globale Betreuungskette“ führt zur Verstärkung von sozialer Ungleichheit, von Dequalifikation, Prekarisierung und Abhängigkeiten der Frauen – angefangen bei den Herkunftsländern von Geflüchteten und Migrantinnen bis zu den Aufnahmeländern in Europa. Männer hingegen arbeiten oftmals am Bau, in der Metallindustrie und im Transport- und Logistikbereich. Im Gastronomiebereich arbeiten sowohl Männer als auch Frauen undokumentiert.

Kannst du ein wenig auf die Rahmen- und Arbeitsbedingungen eingehen, mit denen undokumentierte Arbeiter*innen konfrontiert sind?

Undokumentierte sind oftmals von Ausbeutung betroffen, Arbeitsbedingungen, die rechtlich festgelegt sind, können heruntergesetzt werden. Doch gerade Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden und keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel besitzen, sind abhängig von dieser Arbeit. Sie dürfen legal nicht arbeiten, müssen jedoch für sich selbst, ihr Leben, für ihre Familie sorgen. Zu uns kommen Menschen, die unter dem Mindestlohn oder monatelang gar nicht bezahlt werden und gleichzeitig zu viele Stunden am Stück arbeiten. Aber auch Gewalt ist ein Thema, da undokumentierte Arbeiter*innen kaum geschützt sind. Vor ein paar Monaten kam eine Frau zu uns, die von ihrem Arbeitgeber sexuell belästigt wurde, aber keine Möglichkeit fand, um Beschwerde dagegen einzureichen. Daher ist es so wichtig, den Menschen eine Arbeitserlaubnis zu geben. So lange die Gesetze diese Realität von undokumentierter Arbeit nicht anerkennen, wirkt sich das aber nicht nur auf die Betroffenen, sondern auf uns alle aus. Diese Prekarisierung wird instrumentalisiert, um Lohndumping voranzutreiben und die Lebensbedingungen für alle unten zu halten. Arbeitgeber*innen und Regierungen versuchen, die verschiedenen Arbeiter*innen zu spalten, aber schlechte Arbeitsbedingungen betreffen alle. Das wird oft vergessen.

Eine Befürchtung von dir ist, dass die derzeitigen Asylbewerber*innen die undokumentierten Arbeiter*innen der Zukunft werden. Kannst du das genauer erklären?

In Belgien werden jedes Jahr rund 20.000 Asylanträge gestellt. Mehr als die Hälfte von ihnen erhalten einen negativen Bescheid. Manche dieser Menschen versuchen es in einem anderen Land, aber der Großteil bleibt in Belgien, weil sie vielleicht schon arbeiten und hier die Möglichkeit haben, zumindest ein wenig Geld zu verdienen, um zu überleben. Hinzu kommt, dass in Belgien auch anerkannte Flüchtlinge in den ersten drei Jahren ihre Anerkennung wieder verlieren können. Obwohl diese Regelung der Genfer Flüchtlingskonvention widerspricht, wird sie angewandt. Von diesen Menschen werden noch weniger tatsächlich zurückkehren, sie haben sich bereits ein Leben in Belgien aufgebaut, aber durch das Verlieren der Anerkennung werden sie zu undokumentierten Arbeiter*innen.

Welche politischen Rahmenbedingungen braucht es sowohl auf nationaler Ebene als auch auf EU-Ebene, um die Lage von undokumentierten Arbeiter*innen zu verbessern?

Auf EU-Ebene gibt es bereits Richtlinien, die jedoch in Belgien und vielen anderen EU-Mitgliedstaaten nicht zur Gänze umgesetzt wurden. Zum Beispiel die Richtlinie 2009/52/EG, die Mindeststandards für Sanktionen gegen Arbeitgeber*innen definiert, die undokumentierte Arbeiter*innen beschäftigen. Diese hat Belgien zwar implementiert, zumindest alle Artikel bis auf den Artikel 13.4. Doch gerade dieser wäre zentral. Darin wird festgelegt, dass Migrant*innen, die Beschwerde gegen ihren Arbeitgeber einlegen, eine temporäre Aufenthaltserlaubnis bekommen. Das ist der einzige Artikel, der den Drittstaatsangehörigen einen Schutz gewähren würde – ohne diesen Schutz, ohne die Sicherheit, dass sie nicht an die Ausländerbehörde weitergeleitet werden, legen die Betroffenen keine Beschwerde ein. Ohne Schutzmechanismen gibt es keine Sanktionen, keine Konsequenzen für ausbeutende Arbeitgeber*innen. Eine feministische Forderung auf EU-Ebene ist zudem die Professionalisierung des Pflege- und Reinigungssektors. Es braucht sowohl eine symbolische Anerkennung dieser Arbeit, als auch ein klares Bekenntnis der Regierungen, dass diese Frauen einen legalen Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis erhalten. Den Regierungen muss klargemacht werden, dass wir diese Frauen für Pflege-, Betreuungs- und Haushaltstätigkeiten brauchen. Es ist zwar traurig das so zu sagen, weil es Rollenbilder zementiert, aber solange die Arbeit nicht anerkannt wird, können diese Rollenbilder auch nicht durchbrochen werden. Erst durch die Legalisierung des Aufenthalts und einer Arbeitserlaubnis schaffen es diese Frauen diesen Sektor zu verlassen, sich zu empowern und einen anderen Bildungs- und Arbeitsweg einzuschlagen.

zurück zur Übersicht
Suche