„In welchem Europa wollt ihr leben?“, mit dieser Frage eröffnete Moderatorin Claudia Unterweger die Diskussionsveranstaltung „#ask: Meine Sicht auf Europa“ im Wiener Audimax. Eine Delegation des Europäischen Parlaments stellte sich dabei am 19. Juni den Fragen von Studierenden. Studierende, die unter anderem in einem Europa leben wollen, welches Migration, Flucht und Menschenrechte zusammendenkt. Das ließen zumindest einige der Fragen vermuten. Mit welchen Ansätzen die EU-Parlamentarier*innen den Themen Migration und Flucht begegnen, soll dieser Ausschnitt aus der Diskussion zeigen.
Der Präsident des Europäischen Parlaments Antonio Tajani, Josef Weidenholzer (Vizepräsident der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten), Roberts Zīle (Stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer), Gabriele Zimmer (Vorsitzende der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke), Ska Keller (Ko-Vorsitzende der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz) und Peter Lundgren (Stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie).1 Diese Personen beantworten die Fragen der Studierenden.
„Wie möchte sich Europa auf eine erneute Flüchtlingsmigration vorbereiten und wie soll die Asylpolitik in Zukunft gestaltet werden?“, so lautet eine der ersten Fragen von einer Studierenden. Die Antworten reichen von mehr Solidarität über Fluchtursachen bekämpfen bis hin zur Auseinandersetzung mit Mythen.
Antonio Tajani:
Im vergangenen Jahr haben wir versucht, mehr Solidarität zu forcieren. Solidarität bedeutet dabei nicht nur Geld für Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen, die mehr Unterstützung brauchen. Auch das Relocation-Programm2015 beschloss die Europäische Union das Relocation-Programm. Im Rahmen dieses Programms sollten mehr als 100.000 Geflüchtete von Griechenland und Italien in andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. ist wichtig, denn das Thema betrifft nicht nur Italien, Malta oder Griechenland, sondern ganz Europa.
Josef Weidenholzer: Ich glaube, dass sehr viel falsch gelaufen ist. Europa war eigentlich ein Kontinent, von dem Menschen immer ausgewandert sind. Seit ungefähr einer Generation wollen Menschen nach Europa einwandern. Dass Europa so attraktiv ist und die Menschen zu uns wollen, ist grundsätzlich positiv. Wir haben akzeptiert, dass wir ein Zuwanderungskontinent sind, aber wir haben keine Regeln aufgestellt. Wir haben die Augen bei den Kriegsflüchtlingen zugemacht. Im Jahr 2013 waren 60.000 syrische Flüchtlinge im Schengen-Raum. Damals hätte man etwas tun können, Kontingente festlegen, man hätte RyanAir beschäftigen können. Das wäre viel billiger und ungefährlicher gewesen. Stattdessen hat man die Mittel, die für die Flüchtlingslager im Nahen Osten vorgesehen waren, gekürzt. Das ist das eigentliche Politikversagen.
Ska Keller: Aus meiner Sicht braucht es für eine vernünftige Flüchtlingspolitik vor allem folgende Punkte: Wir müssen gezielt und konsequent Fluchtursachen bekämpfen. Die EU bzw. die Mitgliedstaaten exportieren nach wie vor Waffen – zum Beispiel nach Saudi-Arabien. Ein Land, das mit Jemen Krieg führt. Durch den Krieg gibt es fast drei Millionen Binnenflüchtlinge. Diese Waffenexporte müssen aufhören. Der zweite Punkt ist, dass wir mit unserer Handelspolitik, Fischereipolitik und Agrarpolitik gerade unglaublich viel dafür tun, dass Menschen anderswo noch ärmer werden. Da könnte man entgegensteuern. Nur bräuchte es dafür konsequentes und kohärentes Handeln, das dann auch mal nicht in erster Linie der europäischen Wirtschaft zugutekommt. Zentral sind außerdem legale und sichere Wege für Flüchtlinge. Es kann nicht sein, dass das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt für Flüchtlinge ist, dass einzelne Länder ihre Häfen schließen und NGOs diskriminiert und kriminalisiert werden, weil sie Menschenleben retten. Und es braucht eine faire und solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union. Und da müssen alle Länder mitmachen.
Gabriele Zimmer: Ich glaube, wir müssen uns auch mit Mythen auseinandersetzen. Ein Teil dieser Mythen ist, zu behaupten, dass Millionen oder Milliarden Menschen auf dem Weg nach Europa sind. Das stimmt nicht. Außerdem setze ich mich zurzeit in Deutschland mit der Behauptung auseinander, dass Deutschland 2015 die Grenzen geöffnet habe. Nein, Merkel hat die Grenzen nicht geöffnet, sie hat sie nicht geschlossen. Das ist ein großer Unterschied: Sie hat einmal in ihrem politischen Leben etwas getan, wofür sie von den Linken verteidigt werden muss. Und dafür soll sie jetzt von rechts weggeschoben werden. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Wir müssen dafür sorgen, dass der Begriff der Solidarität in der EU neu definiert wird. Im Rahmen der Präsidentschaft wird gesagt, Solidarität sei, wenn wir Länder, die eine Außengrenze haben, unterstützen, damit sie ihre Grenzen befestigen. Ich sage, Solidarität ist, wenn wir dafür sorgen, dass kein Land allein überfordert bleibt und so in eine menschenrechtswidrige Situation gerät, aus der das Land alleine nicht mehr herauskommt.
Roberts Zīle: Ich bin aus Lettland und wir haben für etwa 100 Geflüchtete eine Unterkunft gebaut, die einem Apartmentgebäude gleicht. Wir sind ein kleines Land, wir haben die Quote fast ganz erfüllt. Aber diese Unterkunft ist immer leer. Es lebten nie mehr als 30 oder 40 Personen dort. Sobald Geflüchtete aus Griechenland oder Italien zu uns kommen, verschwinden sie wieder. Viele warten ihr Asylverfahren gar nicht ab, sondern gehen nach Deutschland, manchmal auch nach Schweden. Das Thema ist also komplexer. Die Menschen wollen nicht in arme Länder, sondern in Länder, in denen es ihnen besser geht. Das ist auch verständlich, das ist menschlich. Aber warum muss man den Kampf zwischen den Regierungen dann verstärken?
Peter Lundgren: Ich komme aus dem Land, das pro Kopf am meisten Migranten aufgenommen hat. Das ist Schweden. Die EU verspricht den Mitgliedstaaten, die Außengrenzen zu wahren. Dadurch können wir Bewegungsfreiheit innerhalb Europas haben. Solange diese Außengrenzen nicht geschützt werden, müssen wir das selber machen. Außerdem müssen wir in Afrika investieren. Wir müssen für die Menschen Möglichkeiten schaffen, damit sie in ihren Herkunftsländern bleiben und leben können. Wir müssen sicherstellen, dass es möglich ist, in allen Ländern zu leben.
„Wir sprechen von Solidarität, von fairer Verteilung. Aber es wurde noch kein Weg gefunden, um das so umzusetzen. Jetzt bildet sich eine Fraktion innerhalb der EU, die nicht mehr von einer europäischen Lösung ausgeht. Die CSU stellt ein Ultimatum und droht mit einem Alleingang. Was bedeutet das für die EU, wenn in der nächsten Zeit keine Lösung gefunden wird?“
Josef Weidenholzer: Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen war ich oft am Balkan. Ich kenne die Lager, ich habe mit den Menschen gesprochen. Es passieren sehr grausliche Dinge dort. Wenn man die Grenzen schließt und einem Teil der Menschen keine Chance mehr gibt weiterzukommen, vertrauen sie sich kriminellen Netzwerken an. Das kostet viel Geld, das man nicht hat, wenn man gerade in Griechenland ist. Dadurch nimmt die Prostitution oder der Organhandel in solchen Lagern zu. Das heißt, wir brauchen vernünftige Lösungen, die nicht darin bestehen, dass man den Teufel an die Wand malt, um ihn dann zu bekämpfen. Das bringt natürlich Wählerstimmen, daher ist man eigentlich froh, wenn man das Problem nicht löst. Die Probleme lassen sich aber lösen, wenn man nur will und das kostet auch nicht sehr viel.
Ska Keller: Das Gute ist, dass wir als Europäisches Parlament fraktionsübergreifend einen Vorschlag zur Reform des Dublin-Systems gemacht haben, der das Dublin-System durch eine faire Verteilung von Asylsuchenden ersetzen will. Die gleichen Fraktionen und die gleichen Länder, die auch im Rat sitzen, haben es im europäischen Parlament geschafft, einen Kompromiss zu finden. In diesem Vorschlag ist nicht alles grün, trotzdem verteidige ich ihn. Wenn wir das schaffen, frage ich mich, warum der Europäische Rat das nicht schafft. Und jetzt steht Europa vor einem Ultimatum, weil eine bayerische Regionalpartei vermutlich nicht mehr die absolute Mehrheit bekommt. Das finde ich unterirdisch. Wir brauchen den Druck auf die Mitgliedstaaten. Viele denken, dass alle Bürgerinnen und Bürger keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Ich glaube nicht, dass das stimmt, aber jene, die keine wollen, sind am Lautesten. Daher ist es wichtig, dass die Anderen auch mal sagen, dass sie vernünftige Lösungen wollen, dass sie Menschen in Not helfen und keine Ultimaten von kleineren oder größeren Splitterparteien wollen.
„Wie können wir eine Gesellschaft erreichen, in der der Respekt gegenüber Menschenrechten universell ist?“
Gabriele Zimmer: Ich kann mich nicht wirklich sozial frei fühlen, wenn ich bestimmte Rechte nicht habe und dazu gehört auch die Frage, wie wir mit Asylbewerbern und Geflüchteten umgehen. Das ist ein Menschenrecht. Asylschutz ist ein Menschenrecht. Dem haben wir uns zu stellen. Wir können nicht einfach sagen, dass wir uns nur um uns kümmern und der Rest ist uns egal.
Ska Keller: Die Fluchtfrage ist gerade eine unglaublich wichtige Frage und das nicht, weil die EU bedroht ist. Es gibt 500 Millionen Einwohner*innen in der EU. 2015 kamen zwei Millionen Flüchtlinge, also ein Flüchtling auf 250 Einwohner*innen. Das Problem in 2015 war, dass es keine geordneten Verfahren und keine faire Verteilung gab. Die eigentliche Katastrophe ist, dass wir jetzt jeden Anschein von Humanität verlieren in der Europäischen Union. Es geht gerade darum, dass alle Grenzen dichtgemacht werden, dass das Recht auf Asyl faktisch abgeschafft wird oder dass wir Zentren in Libyen machen, wo es nicht mal einen funktionierenden Staat gibt. Das ist für mich das Ende der Humanität und das Ende der Menschenrechte in der Europäischen Union.
1 Kurzfristig abgesagt haben Manfred Weber (Vorsitzender der Europäischen Volkspartei), Guy Verhofstadt (Vorsitzender der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) und Nicolas Bay (Ko-Vorsitzender der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit).
Transkript: Valentine Auer