Jugendarbeit in Zeiten von Corona: “Wir brauchen einen Fahrplan”

11 Mai 2020
Jugendarbeit in Zeiten von Corona: "Wir brauchen einen Fahrplan"
Das Übernachtungshaus des KJR Coburg "Am Weinberg" in Rödental ist aufgrund der aktuellen Situation noch geschlossen.

Sibylle Oettle ist Teilnehmerin des aktuellen Diskurses „Miteinander vor Ort“. Als Geschäftsführerin des Kreisjugendrings (KJR) Coburg ist sie für 30 Verbände und Mitgliedsorganisationen im Landkreis Coburg zuständig. Dabei geht es vor allem um die Förderung der Verbände, der Mitgliedsorganisationen und des Ehrenamtes sowie um die Umsetzung der Zielvereinbarungen mit dem Landkreis. Darüber hinaus betreibt der KJR Coburg ein Jugendübernachtungshaus sowie ein Hüttendorf. Weitere Schwerpunkte von Sibylle Oettles Arbeit liegen auf dem Ausbau des politischen Engagements und der politischen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Im Interview berichtet sie, wie sich die Corona-Maßnahmen auf ihre Arbeit auswirken und was für sie gerade besonders wichtig ist.


Wie sieht eure Arbeit derzeit aus?
Grundsätzlich arbeiten wir alle derzeit noch und haben gute Regelungen getroffen, dass die Mitarbeiter ausreichend Abstand halten können und das Büro jeweils nur von einer Person besetzt ist. Es ist auch gewährleistet, dass wir weiter als Ansprechpartner für unsere Vereine und Verbände da sind. Da wir ein Übernachtungshaus und ein Hüttendorf haben, ist für uns natürlich besonders schwerwiegend, dass sie geschlossen bleiben müssen. Für unseren Haushalt haben wir fest mit den Einnahmen gerechnet; das ist jetzt schwierig, da die Zahlen durch die Corona-Maßnahmen ziemlich durcheinandergewürfelt wurden, vor allem da noch nicht absehbar ist, wie lange die Schließung noch andauern wird. Diesbezüglich gibt es noch keinerlei Aussagen.
Und nachdem es ganz danach aussieht, dass die Schulen bis zu den Sommerferien nicht mehr in den Regelbetrieb gehen, ist schwer vorstellbar, wie das in den nächsten Wochen und Monaten für die Jugendarbeit aussehen wird. Deswegen sind wir aktuell auch sehr beschäftigt damit zu schauen, was wir geplant haben und was wir umplanen müssen. Im Juli hatten wir vor, zum Tollwood-Festival zu fahren – das wurde, wie viele andere Großveranstaltungen, abgesagt. Dann ist die Frage, welche Angebote wir sonst durchführen können und was gebraucht wird?
Weiter beschäftigt uns natürlich auch die Frage, wie wir die Jugendlichen erreichen können – etwa über Onlineformate. Die Jugendarbeit bietet jetzt auch viel online an – etwa über Videokonferenzen – und macht sehr viel über Facebook und über ihre jeweiligen Webseiten.
Ich habe aber auch schon einzelne Stimmen gehört, dass Jugendliche eigentlich gar nicht mehr so viel online beschäftigt werden wollen, weil sie schon für die Schule enorm viel Zeit vor dem PC verbringen müssen, und dann nicht noch zusätzliche Online-Angebote haben möchten.
Eine weitere Frage ist, ob wir all unseren Verpflichtungen nachkommen, die wir haben, etwa mit den Verträgen, die wir mit dem Jugendamt geschlossen haben. Da sind wir gerade am Klären und dabei spielt auch das neue Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) eine Rolle. Inwiefern dieses Gesetz auf uns zutrifft oder nicht, darüber wird gerade juristisch gestritten. Es muss jetzt geklärt werden, ob auch wir von dem Gesetz betroffen sind oder nicht.

Worum geht es im Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG)?
Das SodEG ist für soziale Dienstleister, deren Betrieb zum Beispiel vorübergehend geschlossen wurde oder Einnahmen wegfallen. Wenn diese dadurch in eine wirtschaftliche Notlage geraten, können sie Zuschüsse erhalten. Dazu müssen sie angeben, welche Ressourcen sie haben, um sich bei der Bewältigung der Corona-Krise zu beteiligen. Dies könnten beispielsweise Räumlichkeiten sein, die sie zur Verfügung stellen oder Mitarbeiter*innen, die dann in systemrelevanten Bereichen eingesetzt werden. Es gibt aber auch soziale Dienstleister, die nicht in das Anwendungsgebiet des SodEG fallen. Das sind beispielsweise Projektförderungen oder institutionelle Förderungen.

Zu unseren Aufgaben zählt unter anderen die Förderung und Unterstützung von Vereinen und Verbänden, die Jugendarbeit anbieten und denen wir beispielsweise Mittel über unsere Grundförderung oder Freizeitförderung zukommen lassen. Die Grundförderung ist an ein paar Punkte gebunden, etwa dass die Delegierten zur Vollversammlung kommen und sich in die Arbeit einbringen, abstimmen oder auch über unsere Arbeit beschließen. Wir halten nun auf anderen Wegen den Kontakt zu unseren Verbänden und Jugendleitern. Unsere Vorstandssitzungen finden per Videokonferenz statt, solange wir uns nicht in Präsenzveranstaltungen treffen dürfen. Auch unsere Vollversammlung soll stattfinden, weil wir wichtige Themen auf der Tagesordnung haben, die wir so nicht verschieben können wie die Beschließung des Haushaltes. Auch wenn der Bayerische Jugendring mitteilte, dass eine Vollversammlung in diesem Jahr ausfallen darf, überlegt die Vorstandschaft, welche Sicherheitsmaßnahmen jetzt getroffen werden müssen, damit unsere Delegierten sicher an der Vollversammlung teilnehmen können, um über unaufschiebbare Punkte beschließen zu können.
Viele Maßnahmen sollten meiner Meinung nach auch weiterlaufen, all die Strukturen, die für die Jugendarbeit wichtig sind – natürlich unter Beachtung der derzeitigen Regelungen und Sicherstellung der Gesundheit aller Teilnehmenden. Es ist schön, dass wir hier so gut ausgebaute Strukturen haben mit einer wirklich großen Vielfalt an Verbänden, egal ob das die muslimische Glaubensgemeinschaften sind, die Pfadfinder, Sportgruppen – es ist einfach ein sehr, sehr großes Angebot. Ich finde es wichtig zu schauen, wie das breite Angebot gut durch diese Zeit kommt und auch aufrechterhalten werden kann. Nicht dass aus Geldnot heraus die Jugendarbeit eingestellt wird oder wir kein Geld mehr bekommen, weil wir Jugendarbeit gerade anders betreiben als sonst, weil zum Beispiel aktuell keine Gruppenstunden stattfinden dürfen. Das fände ich sehr, sehr schade.
Und sehr wichtig sind eben auch unsere Angebote für die Ferien.

Gibt es schon Aussagen bezüglich der Durchführung der Ferienmaßnahmen?
Nein, ich versuche im engen Kontakt mit anderen Leuten zu sein, die in der Jugendarbeit tätig sind und vor allem auch mit dem Bayerischen Jugendring. Wir haben wöchentliche Videokonferenzen mit dem Präsidenten Matthias Fack und auch Esther Detzel, die für die Jugendringe zuständig ist. In dem Rahmen versuchen wir aktuell auch die Fragen zu erörtern, was jetzt mit den internationalen Studienreisen und mit unseren Ferienfreizeiten passiert. Dazu gibt es aber noch keine Aussage. Es wird geraten, erst einmal weiterzuplanen, weil man noch gar nicht weiß, ob die Aktionen überhaupt stattfinden können und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Aber es sollen auf jeden Fall Angebote da sein, wenn man sie wieder durchführen darf.

Das ist eben auch unser Vorgehen: Wir planen weiter. Bei den internationalen Studienfahrten glaube ich nicht, dass sie stattfinden werden. Im Sommer nach Kopenhagen zu reisen, erscheint mir doch sehr unwahrscheinlich. Und vermutlich wird sich jetzt auch kein Jugendlicher dazu entscheiden, an einer Auslandsfahrt teilzunehmen beziehungsweise sich dafür anzumelden. Aber die Freizeiten, die in unserem eigenen Haus stattfinden, planen wir jetzt und werden dann auf die Aussagen reagieren, die von der Bayerischen Staatsregierung oder von unserem Landkreis kommen werden. Wir brauchen einen Fahrplan. Es braucht Klarheit, auch wenn das bedeutet, dass in den nächsten zwei bis drei Monaten nichts stattfindet, damit man andere Wege finden kann, statt weiter in der Ungewissheit zu bleiben und ins Blaue hinein zu planen, auch um besser wirtschaften und Angebote entsprechend planen zu können.

Arbeitet ihr an Online-Formaten?
Ich bin gerade dabei zu erörtern, wie die Jugendarbeit in unseren Verbänden umgestaltet worden ist, welche Angebote unsere Verbände haben und bereits anbieten. Ich hole dazu Rückmeldungen ein, um einen Überblick darüber zu gewinnnen, welche digitalen Angebote es bereits gibt, die auch andere Kinder und Jugendliche wahrnehmen können. Aus meiner Sicht ist es wichtig tatsächlich darzustellen, dass sich die Jugendarbeit an die Situation anpasst, dass sie sich verändert hat und weitergearbeitet wird. Jugendarbeit steht eben nicht still und wartet einfach nur ab. Es ist so wichtig, den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen zu halten, weil man nicht einfach in einigen Wochen wieder sagen kann: Jetzt geht’s wieder weiter, kommt doch wieder ins Vereinsheim.

Das heißt, Jugendarbeit ist kontinuierliche Beziehungsarbeit?
Ja, es braucht eine Beständigkeit und eine Kontinuität. Kinder und Jugendliche brauchen den Kontakt zu anderen, es reicht nicht, wenn sie ständig nur in der Familie sind. Freunde und Klassenkameraden fehlen.

Ich hoffe sehr, dass unsere Freizeiten stattfinden können. Auch wenn das aus heutiger Sicht mit der bestehenden Ausgangsbeschränkungen und der Kontaktsperre fast unmöglich erscheint, zum Beispiel auch zu mehreren in einem Raum zu übernachten. Zumal es ja so ist, dass es für Kinder viel schwieriger ist, die Abstandsregeln einzuhalten. Denkbar wäre, dass wir ein Tagesprogramm anbieten und sie abends wieder nach Hause gehen. Aber dieses Ferienprogramm ist gerade jetzt umso wichtiger, weil Eltern schon jetzt am Limit sind – mit ihren Urlaubstagen oder weil sie unbezahlt freigestellt sind, um ihre Kinder zu betreuen, was auch weiterhin der Fall sein wird, da zum derzeitigen Kenntnisstand kein regelmäßiger Schulbetrieb stattfinden wird bis zu den Sommerferien. Also werden Eltern noch mehr gefordert sein und werden auch auf ihren Sommerurlaub verzichten müssen, weil sie keinen Urlaubsanspruch mehr haben. Es ist schon für Erwachsene schwer auszuhalten – schon diese paar Wochen, um wie viel schwerer ist das für Kinder und Jugendliche? Als wichtige Aufgabe der Jugendarbeit sehe ich gerade auch jetzt an, dass sie weiter Ansprechpartner für die Kinder und Jugendlichen sind, gerade wenn es schwierig wird, zumal es ja auch eine ungewohnte und außergewöhnliche Situation für alle ist.

 

Interview: Juliane Schwab

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