Von Valentine Auer
Seit zwei Jahren gibt es die Agentur VIA, die im belgischen Molenbeek eine Art Integrationskurs anbietet. Nur werden hier die „Newcomers“ nicht „integriert”, sondern willkommen geheißen. Der Diskurs „Wege der Integration“ besuchte VIA. Die Diskurteilnehmerinnen Karin Hutflötz, Annette Korntheuer und Merima Dzaferovic vergleichen den Willkommensprozess bei VIA mit den deutschen Integrationskursen und sprechen über Möglichkeiten, diese sowohl für die Neuankömmlinge als auch für die Gesamtgesellschaft zu verbessern.
„Wir sprechen nicht wirklich über ‘Integration’ im Büro“, sagt Laura Diop. Inmitten des Brüsseler Bezirks Molenbeek sitzt sie in einem hellen Seminarraum im Hauptquartier von VIA und erzählt begeistert von ihrer Arbeit: Also davon, mit welchen Methoden und entlang welcher Leitbilder VIA Neuankömmlinge bei ihrem Willkommensprozess begleitet. „Jemanden willkommen heißen: Das ist einfacher zu erklären und positiv konnotiert. Der Begriff Integration wird hingegen sowohl positiv als auch negativ verstanden und polarisiert derzeit in ganz Europa“, so Diop weiter.
Seit zwei Jahren bietet VIA das an, was in Deutschland „Integrationskurse für Neuzugewanderte“ genannt wird. Nur eben anders: Der „Willkommensprozess“ ist freiwillig und dementsprechend nicht mit Sanktionen verknüpft. Das VIA-Team, das auch die Konzipierung und die Curricula selbst gestaltet, ist multidisziplinär und interkulturell. Neben den Französischkursen werden Menschen, die sich entschließen, den Willkommensweg mit VIA zu gehen, dazu eingeladen in ihrer Muttersprache, aber auch mit Hilfe von Bildern, über sich selbst zu sprechen, über Werte, die für sie wichtig sind. Es findet ein Austausch über gesellschaftliches Zusammenleben statt: „Erst geht es darum zu klären, wer Du selbst bist, dann reden wir darüber, wer Du werden kannst“, erklärt die stellvertretende VIA-Leiterin Diop.
Muttersprache und Bilder statt deutsche Lückentexte
„Methodisch scheint VIA sehr fortschrittlich zu sein. Die hohen Qualitätsstandards haben mich beeindruckt“, antwortet die Diskursteilnehmerin Karin Hutflötz auf die Frage, wie sie den belgischen Willkommensweg im Vergleich zu den deutschen Integrationskursen bewertet. Hutflötz forscht derzeit unter anderem zu interkultureller Wertebildung im Umfeld von Flucht und Migration. Die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten des VIA-Teams hebt sie als positiv hervor: „In Deutschland sind Integrationskurse einheitlich konzipiert. Ein Großteil dessen, was in den Kursen schiefläuft, liegt in dieser zentralistischen Konstruktion. Menschen, die nie etwas mit Geflüchteten zu tun haben, konzipieren die Kurse, schreiben die Curricula“.
Es seien aber auch ganz kleine Dinge, die schon viel ändern würden – wie zum Beispiel die Arbeit mit Bildern. In Deutschland liege der Fokus auf Texten, so Hutflötz weiter: „Ein großer Teil der Wertebildung ist das Austeilen des Grundgesetz-Textes. Das ist prinzipiell nicht schlecht. Aber wenn das mit einem Lückentext abgeprüft wird, bei dem du am Ende des Tages das Wort Freiheit ausfüllst, hat das mit Wertebildung nichts zu tun.“
Stattdessen sollte auch in Deutschland die Wertebildung – oder ein „Austausch von Lebenssichten“, wie es sich Diskursteilnehmerin Annette Korntheuer wünschen würde – in der Muttersprache stattfinden: „Das funktioniert natürlich nicht auf Deutsch, wenn jemand kein Deutsch spricht“, so Korntheuer. Gleichzeitig betont sie als Bildungskoordinatorin der Stadt München, dass es zumindest in München auch unterschiedliche Formate von Integrationskursen gäbe, die nicht so stark abhängig vom Bundesamt für Migration und Flucht (BAMF) seien, dementsprechend eigene Gestaltungsmöglichkeiten hätten und teilweise auch mit multiprofessionellen Teams arbeiten.
Gerade letzteres wünscht sich Diskursteilnehmerin Merima Dzaferovic flächendeckend in Deutschland für Anlauf- und Beratungsstellen für Geflüchtete und Migrant*innen: „In Deutschland arbeiten viele Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter in solchen Stellen. Es wäre gut, wenn es mehr Diversität in Bezug auf die fachlichen und beruflichen Kompetenzen gäbe. Je nach Person braucht man andere Zugänge und Kompetenzen“.
Willkommen heißen vom ersten Tag an
Es gibt also einiges, das besser laufen könnte – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch beim belgischen Willkommensbüro VIA. Allen voran: Die Angebote sollten für Geflüchtete vom ersten Tag an zugänglich sein – also Integrationskurse nicht nur für anerkannte Flüchtlinge oder jene mit einer hohen Bleibewahrscheinlichkeit, sondern für alle Asylbewerber*innen. Denn bis zur Anerkennung kann es dauern:
Im vergangenen Jahr hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchschnittlich 10,7 Monate gebraucht, um einen Asylantrag zu bearbeiten. „Wenn der Sprachlernprozess, die Annäherung erst so spät anfängt und sich vielleicht schon Frustration aufbaut, verpasst man tolle Chancen“, weiß Korntheuer aus ihrer Praxis.
ÜBER VIA
Wenn dann zusätzlich die Integrationskurse für „Einheimische“ bzw. für Menschen, die schon länger in Deutschland oder Belgien leben, geöffnet werden, wäre für Hutflötz schon vieles erreicht: „Willkommensprozesse oder Integrationskurse könnten mit Mentorenprogrammen verknüpft werden, damit Menschen mit Fluchtgeschichte nicht unter sich bleiben. Auch die Forschung belegt, dass Gesellschaftsbildung nur über gemeinsame Erfahrung läuft und nicht über die kognitive Akzeptanz von Regeln.“
Coaches statt Sozialarbeiter*innen
Und auch Diop ist sich sehr wohl bewusst, dass VIA noch Verbesserungsbedarf hat. So will das Willkommensbüro im kommenden Jahr daran arbeiten, die Angebote weniger sozialarbeiterisch auszurichten und stattdessen auf eine Art Coaching zu setzen. Im Rahmen dessen sollen Menschen beraten und nicht belehrt werden, ein Schritt in Richtung weniger Paternalismus.
Zudem stehen im Oktober dieses Jahres belgische Kommunalwahlen an. Rechtspopulistische Parteien erleben – wie in vielen Ländern Europas – in Belgien derzeit Aufwind. Ob VIA danach immer noch selbst entscheiden kann, dass sie nicht von Integration sprechen, sondern Newcomers willkommen heißen oder ob Geflüchtete sich danach noch freiwillig für den Willkommensweg entscheiden können, ist derzeit unklar.
Weiterführende Informationen:
Web-Präsenz von VIA: http://www.via.brussels
Durch das föderale System in Belgien sind die Integrationsansätze und Willkommensprozesse unterschiedlich organisiert. So ist zum Beispiel die Freiwilligkeit des Willkommensweg ein Spezifikum bei VIA, das bei ähnlichen Angeboten in Flandern nicht gilt. Auch die Zertifikate werden nur in der jeweiligen Region anerkannt und können nicht übertragen werden. Die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentliche im März 2018 eine Analyse zu den unterschiedlichen Integrationsansätzen in Brüssel-Stadt, Wallonien und in Flandern: http://www.kas.de/wf/de/33.51730/
Das niederländische Pendant zu VIA in Brüssel: https://bon.be/en