„Wenn wir Menschen nicht an den Rand drängen, wird Migration zur Normalität“

10 Nov 2018
„Wenn wir Menschen nicht an den Rand drängen, wird Migration zur Normalität“
Christina West, Foto: Benjamin Storck

Von Valentine Auer und Benjamin Storck

Dr.in Christina West studierte Geographie und deutsche Philologie an der Universität Mannheim. Zu ihren Schwerpunkten im Bereich der Stadt-, Quartiers- und Regionalforschung zählen unter anderem Migrations-/Fluchtforschung, Governance- und Partizipationsforschung, Utopia – Heterotopie – Transtopie, demographischer Wandel, Wanderungsmotive, Cultural Memories, politische Ökonomie, inter-/transdisziplinäre Transformationsforschung. Derzeit arbeitet sie ihr Konzept „Transtopia: Transversale Stadt – Transversale Gesellschaft“ aus. Sie war wissenschaftliche Koordinatorin und Geschäftsführerin des Reallabors „Urban Office – Nachhaltige Stadtentwicklung in der Wissensgesellschaft“ am Geographischen Institut Heidelberg. Im Reallabor Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region ist sie Projektleiterin für Dezentrales Wohnen und für das „UrbanUtopiaLAB“ sowie Mitglied des Direktoriums. Derzeit ist sie Senior Wissenschaftlerin im Leitungsteam „Zukunftsorientierte Stadtentwicklung“ des forschungsbasierten Transferprojekts „Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung“ an der „University of Applied Sciences Darmstadt“. Daneben ist sie erste Vorsitzende und Gründungsmitglied von „Urban Innovation – Stadt neu denken!” e.V.

Würden Sie das Konzept der Hoffnungshäuser als Good-Practice-Beispiel bewerten?

So wie sich der Wohnungsmarkt heute gestaltet, brauchen wir sehr viele verschiedene Formate des Wohnens und des Zusammenlebens. Die Idee der Hoffnungshäuser ist ein Baustein in dieser notwendigen Diversifizierung des Wohnungsmarktes. Dass der Hoffnungsträger sich mit einem Architekturkonzept engagiert, das das Zusammenwohnen zwischen Personen mit und ohne Fluchthintergrund aufgreift und ganz bewusst Begegnung und Austausch schafft, ist eine hervorragende Idee. Spannend ist auch, dass es sich nicht nur um eine kleine Wohngemeinschaft mit einigen wenigen Menschen handelt und dass die Hausprojekte kein Solitaire in sich sind. In Sinsheim zum Beispiel ist das Haus an einem relativ zentralen Ort, am Rande der Fußgängerzone. Damit wird sichtbar, dass die Welt in Bewegung ist. Nach Deutschland kamen schon immer Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen – von Geflüchteten über Menschen, die hier Arbeit suchen oder eine Ausbildung machen wollen, bis zu Menschen, die aufgrund eines festen Arbeitsvertrags kommen. Und es wird auch in Zukunft Ein-, Zu- und Durchwanderung geben. Wenn wir Menschen sozial und räumlich nicht an den Rand drängen, wird zur Normalität, dass Menschen migrieren, und wir beugen einer sozialen Marginalisierung und sozial-räumlichen Ausgrenzung vor.

Das Hoffnungshaus wird bereits in verschiedenen Städten in Baden-Württemberg umgesetzt. Die Leiter*innen würden sich freuen, wenn es über Landesgrenzen hinaus wandert. Denken Sie, dass das möglich ist?

Wichtiger als das Konzept 1:1 deutschlandweit zu reproduzieren, finde ich die Diskussion, die damit einhergeht: Die Diskussion rund um die Schaffung von bezahlbarem und menschenwürdigem Wohnraum. Diese Idee der Hoffnungshäuser sollte ein ernsthaftes Nachdenken darüber hervorbringen, welche neuen Formate wir schaffen könnten, um bezahlbaren und menschenwürdigen Wohnraum – wie auch beim Hoffnungshaus – nicht nur für Geflüchtete oder Transfereinkommensbezieher*innen zu schaffen, sondern für alle.

Wie sieht die Situation für Geflüchtete am Wohnungsmarkt aus? Mit welchen Herausforderungen haben Geflüchtete zu kämpfen?

Die großen Probleme sind jene, vor denen auch Menschen mit Migrationshintergrund immer wieder stehen. Das sind Formen von Rassismus und Stigmatisierung: Oftmals reicht schon ein ausländisch klingender Name als Grund, Menschen nicht zu einer Wohnungsbesichtigung einzuladen. In manchen Teilen der Gesellschaft steckt eine Verweigerungshaltung, weil nach wie vor stigmatisierende, menschenverachtende Erzählungen aufpoppen. Der öffentliche Diskurs beeinflusst eine hochnormative Vorstellung von Deutschland. Diese ist wirkmächtig, weshalb es auch im durch Öffentlichkeit hergestellten Raum vorauseilende Zuschreibungen gibt, die nicht reflektiert werden. Diese Probleme können wir nur beseitigen, indem wir den Diskurs verändern und jede*r den Stimmen, die versuchen mit Stereotypisierungen Fronten aufzubauen, aktiv entgegentritt. Zu Menschen, die aus ganz spezifischen Regionen zugewandert sind, gibt es außerdem unreflektierte vorauseilende Geschichten und Narrationen über deren Gewohnheiten. Bei Geflüchteten kommt hinzu, dass vielen Vermieter*innen die Rechtslage bei der Wohnungsvermietung unklar ist. Auch, dass Geflüchtete oftmals noch keine Arbeit haben und dass Mieten in Deutschland teuer sind, ist ein Problem. All das trägt dazu bei, dass Geflüchtete mit Herausforderungen am Wohnungsmarkt konfrontiert sind.

Welche Rolle hat das Wohnen in Bezug auf die Integration aller zu einer heterogenen und transversalen Gesellschaft?

In Deutschland glauben wir, Integration über vier Felder bewerkstelligen zu können. Das sind Sprachfähigkeit, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu bezahlbarem Wohnraum sowie die Etablierung von Unterstützungssystemen. Mit diesen vier Feldern sichern wir meiner Meinung nach erstmal funktionalistisch das Grunddasein der Menschen. Es gelingt uns damit aber auch schon, den Menschen als Menschen anzuerkennen und in Würde ankommen zu lassen, in die Gesellschaft zu integrieren. In puncto Wohnen ist die Vorstellung handlungsleitend, dass Menschen dezentral – also nicht in Sammel- oder Gemeinschaftsunterkünften leben sollen, damit vielfältige Anschlussmöglichkeiten möglich werden und unterschiedliche Menschen sich kennenlernen. Mit dieser Vorstellung wird ein Großteil der Integrationsarbeit über die Grunddaseinsfunktion „Wohnen“ in Quartiere verlagert. Das ist aber kein Selbstläufer, da Wohnen eigentlich der Raum ist, in dem Privatheit stattfindet. Die Wohnung ist der Ort des Rückzugs, wir können die Tür zumachen und müssen uns nicht mit den Nachbar*innen auseinandersetzen. Deshalb geht es genau genommen nicht um das Wohnen in der Wohnung, sondern um den öffentlichen Raum, also den Raum, der durch Öffentlichkeit, durch Begegnung entsteht und in dem eine direkte, offene aber auch kreative Aushandlung möglich wird, die sich an Möglichkeiten, an Potenzialen und Ideen der Menschen orientiert und weniger an Verboten und Geboten, die im Voraus verhindern oder einschränken. Wir müssen uns also fragen, wo Begegnung stattfindet, die soziale Teilhabe und Gestaltung ermöglicht. Natürlich gibt es Normen, es gibt Gesetze, aber können wir als Gesellschaft nicht so selbstbewusst und neugierig sein, um uns gegenseitig zuzuhören und zu versuchen wirklich allen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen? Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass mir gegenüber ein Mensch sitzt, der von weit hergekommen ist, eine oftmals lange und beschwerliche Reise hinter sich und viel zurückgelassen hat. Ein Mensch mit gewissen, reflektierten Vorstellungen darüber, wie er oder sie leben möchte. Aus diesen Ideen, Wünschen und jeweils eigenen Utopien können gemeinsam Entwicklungen vorangetrieben werden und so können wir uns zusammen fragen, wie wir leben wollen.

Wie könnten solche neuen Formate konkret aussehen?

Mit dem „UrbanUtopiaLAB“, welches wir, meine Kollegin Svenja Kück und ich vom Geographischen Institut der Universität Heidelberg, zusammen mit dem Praxispartner Each1Teach1 im Rahmen des Reallabors „Asylsuchende in der Rhein-Neckar-Region“ geschaffen haben, versuchen wir solche Formate zu entwickeln. Das beginnt damit, dass Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammentreffen und sie gemeinsam herausfinden, wie Stadt wahrgenommen wird, an welchen Orten, wir uns wohlfühlen und welche wir meiden – das heißt, sich gegenseitig die Stadt zeigen und sich klarwerden, dass Stadt kein neutraler Ort ist, sondern von jedem Menschen anders konnotiert wird – rational wie emotional. In diesem Prozess finden wir zum Beispiel heraus, dass Geflüchtete in einem bestimmten Café nicht willkommen sind. Damit können wir uns auseinandersetzen, alle zusammen ins Café gehen und mit den Betreiber*innen ins Gespräch kommen, fragen, wieso das so ist. Daraus entwickeln wir urban-künstlerische Interventionen, irritieren, brüskieren, improvisieren, begegnen damit Menschen und bringen Menschen zusammen. Aus der kritischen Reflektion und Diskussion der vorangegangenen drei Phasen soll ein Policy Paper formuliert werden, in dem Strategien und Prozesse für ein zukunftsfähiges Heidelberg 2030 entwickelt werden.

Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, damit die Entwicklung solcher neuen Formate auch im Großen möglich wird?

Das Problem ist, dass Geflüchtete de facto keine Repräsentation haben oder sich nicht repräsentiert fühlen. Daher finde ich das Konzept der „urban citizenship“ hilfreich: Damit werden alle Menschen, die einfach da sind, egal ob sie einen legalen Status haben oder nicht, sichtbar. Selbst wenn jemand keinen legalen Aufenthaltsstatus hat, gestalten alle Menschen durch ihr „Hiersein“ Stadt mit. Wieso sollten wir dann nicht auch diese Stimmen hören und ihnen ein politisches Mandat übertragen? Wir lamentieren ja oft, dass sich Leute nicht einbringen, aber eigentlich haben wir ihnen im Vorfeld aberkannt, dass sie sich einbringen dürfen. Und ich bin mir sicher, dass das einen positiven Einfluss auf die Entwicklung Deutschlands haben würde. Viele Menschen, die nach Deutschland flüchten, haben Energie, haben eine Vision, etwas nach vorne Gerichtetes – auf eine gemeinsame Zukunft hin. Sie wollen ihren Weg hier gehen – wie wir alle – und das wollen und können sie nicht allein, weshalb alle unsere Wege auch immer wieder gemeinsame Wege sind und werden. Aber wir wollen das nicht hören – oder können wir es nicht hören? Wir sind – bisher – nicht in der Lage, es zu verstehen.

 

Seite 1: „Vorurteile erschweren unsere Arbeit“

 

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