Forschung zu Geflüchteten wird in den Sozialwissenschaften zunehmend wichtiger. Oft fehlt es dabei jedoch an der kritischen Hinterfragung von Konzepten und Begriffen. Der empirische Sozialforscher Jannes Jacobsen gibt einen Einblick in methodologische Hürden der Forschung zu Geflüchteten.
Forschung zu Geflüchteten ist beliebt. Aber auch relativ neu. Während ein Blick auf Migration und deren Auswirkungen auf die Zielländer bereits seit dem Ende des 19. und Anfang des 20. JahrhundertsZu ersten Theorien zählen unter anderem Georg Simmels Theorie des Fremdseins, Ernst Ravensteins Theorie der etappenweisen Wanderungen oder Robert E. Parks Theorie der Segregation von Migrant*innen. ein Teil der Bevölkerungs- und Sozialwissenschaften ist, wurde Fluchtzuwanderung kaum eigens zum Thema dieser Forschungen gemacht. Dies änderte sich in den letzten Jahren, insbesondere mit der Zunahme der Fluchtbewegungen nach Europa seit 2013. Doch dass gerade Forschung zu Personen, die oftmals aus „unterschiedlichen ideengeschichtlichen und kulturellen Kontexten kommen“ – wie Jannes Jacobsen es nennt –, ein stärkeres Hinterfragen von Konzepten und Begriffen benötigt, wird kaum thematisiert.
Jannes Jacobsen ist Teilnehmer des Diskursprojektes „Wege der Integration“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozio-oekonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (SOEP am DIW). Gleichzeitig promoviertArbeitstitel: ‘Research on the Integration of Refugees: Methodological Obstacles and First Empirical Findings’ er zum Thema Flucht und den methodologischen Hürden, mit denen Wissenschaftler*innen in diesem Forschungsbereich konfrontiert sind.
Methodische Hürden, die sich insbesondere in Studien zeigen, die vergleichbar sein wollen. Wie denken „die Deutschen“ über ein bestimmtes Thema und wie „die Geflüchteten“, die in Deutschland leben? „Wir interviewen jemanden und, um Vergleichbarkeit herzustellen, geben wir der Person die gleichen Fragen, die wir in Deutschland in den letzten dreißig Jahren erprobt haben. Wir achten aber nicht darauf, dass die Leute von diesen Begriffen ein ganz anderes Verständnis haben könnten“, fasst Jacobsen eine der zentralen methodologischen Hürden in der Forschung zu Geflüchteten zusammen.
Über das Verständnis von Demokratie
Zum Beispiel bei der Messung demokratischer Werteüberzeugungen. Ein hochaktuelles Thema, das auch medial gern aufgegriffen wird. Oft geht es dabei um die Frage, ob die neu Ankommenden das deutsche Grundgesetz als zentral für eine Gesellschaft akzeptieren: Anhand verschiedener Variablen – wie etwa den Bürgerrechten – wird die demokratische Verfasstheit einer Person abgefragt. Die Variablen basieren dabei auf der Annahme, dass alle Menschen das gleiche Verständnis von Demokratie haben. Ein universalistisches Demokratie-Verständnis nach westlichem Vorbild – im Grunde handelt es sich dabei um die ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes. „Hier muss man die berechtigte Frage stellen, ob dies das einzige demokratische Verständnis ist, das man gelten lassen möchte. Wirft man einen Blick in die Literatur, gibt es durchaus Anlass zu bezweifeln, dass alle ein ähnliches Demokratieverständnis haben wie jenes, das sich in Westeuropa herausgebildet hat“, erklärt Jacobsen.
Statt von einer Vergleichbarkeit auszugehen, sollte danach gefragt werden, ob das Antwortverhalten von den zu vergleichenden Gruppen sich grundsätzlich unterscheidet. Und wenn ja, wieso dem so ist. „Das wird ganz selten gemacht“, so Jacobsen weiter, „und das ist eigentlich ein unfairer Umgang gegenüber Geflüchteten, weil wir ihnen ein Konzept von Demokratie vorsetzen, dass sich ideengeschichtlich nie so herausgebildet hat. Und dann sagen wir trotzdem, dass sie undemokratisch sind.“ Das zeigt sich auch bei den Umfragen zu Demokratie des Sozio-oekonomischen Panels, an denen Jacobsen mitarbeitet. Bis zu 20 Prozent der Geflüchteten beantworten Fragen zu demokratischen Werten gar nicht. Ein Problem, dass sich bei deutschen Befragten kaum zeigt. Die Frage, wieso die Beantwortung nach den demokratischen Werten unterschiedlich ausfällt, ist selten Teil der Forschung, sollte aber ein zentrales Anliegen sein.
Über das Verständnis des Fluchthintergrunds
Ein weiteres Problem in der Sozialforschung, das sich jedoch nicht umgehen lässt: Das Einordnen in analytische Kategorien. Spricht man von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund, handelt es sich in der Regel um Fremdzuschreibungen, die nicht nur von Wissenschaftler*innen, sondern auch von Medien aufgegriffen werden. Laut Jacobsen gilt es hier zu begründen, warum die Herkunft aus einer bestimmten Region einen Effekt haben könnte. Und selbst dann sei es zwar eine begründete, aber dennoch eine Fremdzuschreibung.
„Als Sozialforscher muss ich mit den Konzepten dieser Fremdzuschreibungen arbeiten, weil sie wirkmächtig sind. Ohne diese Unterteilungen könnte ich Rassismen und Ungleichheiten gar nicht aufdecken“, so Jacobsen. Doch wie lange haben Menschen einen Migrations- oder Fluchthintergrund? Ab wann wird jemand tatsächlich als Deutsche*r gesehen und die eigene Herkunft, die der Eltern oder gar der Großeltern egal?
Eine Antwort auf diese Fragen lässt sich speziell bei Personen mit Fluchthintergrund noch nicht beantworten, sagt Jacobsen: „Dass Geflüchtete in der Sozialforschung eine Bedeutung haben, ist relativ neu. In der klassischen Migrationsforschung geht das bis zur dritten Zuwanderungsgeneration, danach verliert der Migrationshintergrund an Bedeutung. Wenn wir jedoch in fünfzig Jahren sehen, dass die Leute, die heute zugewandert sind, immer noch systematisch diskriminiert werden, werden wir uns auch weiterhin diesen Unterschied anschauen müssen.“
Text: Valentine Auer