Tim Hofmann ist Teilnehmer des aktuellen Diskurs-Projekts „Miteinander vor Ort“. Er arbeitet im Streetwork Bobingen und ist im Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Mobile Jugendarbeit in Bayern e.V. (LAG) als Beisitzer tätig. Im Zuge der seit Ende März geltenden Ausgangsbeschränkungen hat er die aufsuchende Jugendarbeit der Streetwork vorübergehend einstellen müssen. Für dringende Beratung stand er telefonisch oder über digitale Plattformen zur Verfügung. Seit Anfang Mai ist er als systemrelevant eingestuft und darf wieder aufsuchen gehen.
Wenn der persönliche Kontakt plötzlich entfällt
Tim Hofmann arbeitet mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Rahmen der aufsuchenden Jugendarbeit. Dabei geht es vor allem darum, junge benachteiligte und von Ausgrenzung bedrohte oder betroffene Menschen zu erreichen, sie direkt in ihrem Alltag zu begleiten und niedrigschwellige, bedarfsorientierte und individuelle Angebote bereitzustellen. Durch seine Vorstandstätigkeit in der bayerischen Landesarbeitsgemeinschaft Streetwork Mobile Jugendarbeit (LAG) steht er im engen fachlichen Austausch mit seinen Vorstandskolleg*innen und anderen Streetworker*innen.
Kurz nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen am 21. März hat er in Rücksprache mit der Kommune und seinem Träger die aufsuchende Jugendarbeit eingestellt und sich auf Beratungen beschränkt. Diese fanden überwiegend telefonisch oder über digitale Plattformen statt. Dass er weiterhin ansprechbar für Beratungen im Rahmen von Einzelfallhilfen bleibt, war ihm sehr wichtig. Nur im äußersten Notfall führte er Beratungsgespräche im direkten, persönlichen Kontakt. Die Beratungen in den zurückliegenden Wochen hätten sich auf ein Minimum reduziert und beschränkten sich auf akute Fälle, berichtet Hofmann.
Seine Tätigkeit lebt vom persönlichen Kontakt und von der direkten Begegnung. Ein Beratungsgespräch am Telefon stellt für manche seiner Klient*innen eine Hürde dar. Noch schwieriger wird es, wenn die Beratung schriftlich über Chats oder ähnliches erfolgt. Da gilt es zum einen, Datenschutz zu gewähren, und Hofmann selbst empfindet die schriftliche Beratung als sehr mühsam. Missverständnisse ließen sich viel schneller im persönlichen und direkten Kontakt erkennen und ausräumen.
Wie umgehen mit der neuen Situation?
Im Landesverband haben sich im Zuge der Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung der Pandemie viele Kolleg*innen mit digitalen Konzepten für die aufsuchende Jugendarbeit befasst. Hofmann sagt: „Für viele – so auch für mich – ist es extrem schwierig, neue Kontakte zu Jugendlichen allein über die sozialen Medien aufzubauen. Es ist eine andere Art des Aufsuchens und es ist etwas, womit wir uns zuvor nicht tiefer auseinandergesetzt haben. Es handelt sich um eine ganz andere Art, in Kontakt zu treten, als wenn man sich draußen über den Weg läuft und einfach mal für zehn Minuten redet. Das ist auf jeden Fall eine Herausforderung für viele von uns gewesen und ist noch immer eine Herausforderung.“
Es geht darum, sich mit den neuen Strukturen und digitalen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Und von einem jeden wird verlangt, so Hofmann, dass er sich selbständig damit befasst. Ein Kritikpunkt war, dass es an Anweisungen seitens der Träger fehlte, wie mit der Situation umzugehen sei. Auch vom Bayerischen Jugendring (BJR) als überörtlichem Träger der Jugendhilfe kamen wenige Vorgaben. Manch einer hätte sich gewünscht, klare Anweisungen und Direktiven zu bekommen. Teilweise übernahmen das die Jugendpfleger, ob und wie der Kontakt zu den Jugendlichen zu gestalten ist, andere überließen die Entscheidung den Mitarbeiter*innen im Feld.
Auch im Landesverband wurde viel darüber diskutiert, so Hofmann weiter, ob sie Empfehlungen aussprechen sollen, hätten letztlich davon abgesehen, da ein jeder Sozialauftrag seine Besonderheiten hat und es aufgrund der Vielfalt in der Streetwork schwierig ist, allgemeingültige Empfehlungen zu geben. Geeinigt haben sie sich innerhalb der Vorstandschaft auf einen Fragenkatalog mit Denkanstößen für die aufsuchende Jugendarbeit. Darin wird unter anderem auch thematisiert, ob es sinnvoll ist, im Kontakt mit Klient*innen eine Maske zu tragen oder auch Masken für diese dabei zu haben.
Hofmann selbst trägt beim Aufsuchen nur ungern eine Maske. Zwar schreckt die Maske die Jugendlichen nicht direkt ab, baut aber eine Distanz auf, weil man aufgrund der nur sehr eingeschränkten Mimik sein Gegenüber nur schwer einschätzen kann. Ihm selbst gehe es so. Deshalb, sagt er, sei er persönlich eher dazu geneigt, die Maske beim Aufsuchen nicht zu tragen. Ganz anders einer seiner Kollegen, der beim Aufsuchen immer eine Maske trägt. Seine Klient*innen sprachen ihn darauf an und wollten selbst eine tragen, woraufhin er selbstgenähte Masken verteilte.
Für Hofmann steht und fällt die Entscheidung für oder gegen das Tragen einer Maske je nach Einsatzort und -art. Das Feld der Streetwork sei zu breit gefächert, um eine allgemeingültige Entscheidung zu treffen. Er hält fest: „Wir wollten Denkanstöße geben, so dass dann ein jeder für sich als Experte in seinem Sozialraum selbst entscheiden kann.“
Streetwork in Zeiten der Pandemie
Einige seiner Kolleg*innen haben konstant durchgearbeitet. Sie wurden relativ früh vom jeweiligen Träger und in Absprache mit der Kommune als systemrelevant bzw. systemkritisch eingestuft und bekamen deswegen auch die Berechtigung und Erlaubnis, sich draußen aufzuhalten und zu arbeiten. Andere, wie auch Hofmann, wurden relativ schnell aus der aufsuchenden Jugendarbeit abgezogen – mit dem Argument, Jugendarbeit aber auch Jugendsozialarbeit könne unter den gegebenen Umständen nicht stattfinden. Für manche bedeutete das Kurzarbeit. Von anderen wurde verlangt, Urlaub zu nehmen. Hofmann dagegen sah sich in der glücklichen Lage, dass der Kreisjugendring (KJR) Augsburg-Land ihn nach Kräften unterstützte und von Anfang an transparent kommunizierte, dass Kurzarbeit keine Option sei. Vielmehr nahm der KJR Augsburg-Land schnell Kontakt mit der Kommune auf und seit Anfang Mai sind Hofmann und weitere Kolleg*innen der Streetwork des Landkreises als systemrelevant eingestuft und dürfen wieder aufsuchen gehen. Hofmann weiß das sehr zu schätzen und sieht darin auch eine Vorbildfunktion für andere Landkreise. Seine pädagogische Leitung hat sich sehr dafür stark gemacht und so hatten sie nach mehreren Anläufen Erfolg. Gemeinsam mit dem Landratsamt und dem Jugendamt konnten sie die Einstufung der Streetworker*innen im Landkreis Augsburg als „systemrelevant“ erwirken.
Hofmann erläutert: „Wir können jetzt zu jeder Zeit wieder im öffentlichen Raum aufsuchen gehen, dem vorliegenden Schreiben nach ohne Einschränkungen. In der Praxis mache ich es etwas anders, auch wenn es theoretisch möglich wäre, wieder ganz normal zu arbeiten.“
Normaler Weise reserviert er aus seiner 39-Stunden-Stelle ein bestimmtes Zeitkontingent. Dann ist er in Bobingen und den dazugehörigen Ortsteilen unterwegs und sucht auf, versucht mit Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum treffen, in Kontakt zu kommen und mit ihnen eine Beziehung aufzubauen. Er nutzt diese Gelegenheiten dazu zu schauen, ob ein Hilfsbedarf vorliegt, sich die jungen Menschen jugendpolitisch engagieren oder sich mit einem Anliegen bei der Kommune Gehör verschaffen wollen. Darin versucht er sie dann bestmöglich zu unterstützen.
Im Winter geht er etwas weniger aufsuchen, aber in Frühjahr und Sommer ist er zwei bis drei Tage draußen unterwegs. So wäre das eigentlich auch im März und April gewesen, was jedoch aufgrund der Maßnahmen gegen die weitere Verbreitung des Coronavirus entfiel. Seit Anfang Mai sucht Hofmann ein- bis zweimal pro Woche auf. Er erfülle durchaus eine Vorbildfunktion, dadurch dass er vor allem mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen Kontakt habe. Aus diesem Grund hält er es nicht für sinnvoll, den ganzen Tag und mehrmals pro Woche draußen unterwegs zu sein und aufzusuchen, als gäbe es keinerlei Beschränkungen mehr. Das könne den Jugendlichen ein falsches Bild vermitteln und das wolle er vermeiden.
Für ihn heißt diese Gratwanderung: Einerseits den Kontakt zu den Jugendlichen wieder regelmäßig und verlässlich aufzubauen, aber andererseits durch etwas geringeres Aufsuchen klarzumachen, dass weiterhin Kontaktbeschränkungen gelten.
Soziale Unterschiede im Blick behalten
Mit den Jugendlichen spricht er immer die aktuelle Situation an: Wie sie die Zeit erleben und wie sie damit zurechtkommen, ob es schon Problematiken mit Ordnungskräften gab usw. Vor allem zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen habe die Polizei in Bobingen relativ hart durchgegriffen und auch schnell Bußgelder verteilt. Für Hofmann ist es zu kurz gegriffen, wenn man den Jugendlichen, die sich weiter im öffentlichen Raum aufhalten, pauschal unterstellt, sie wollten sich nicht an die Regeln halten. Oder sie würden egoistisch und rücksichtslos handeln, ohne jedoch zu wissen, aus welchen Gründen sie sich weiterhin dort aufhalten. Dazu müsse man sich insbesondere auch vor Augen halten, dass man vielen dieser Jugendlichen durch Ausgangsbeschränkungen den für sie erforderlichen Rückhalt und Rückzug nimmt, wenn sie sich nicht mehr mit ihrer Clique treffen dürfen. Zuhause bleiben lässt sich dann erträglich gestalten, wenn das häusliche Umfeld stimmt. Was aber, wenn familiäre Konflikte, prekäre Verhältnisse durch beengte Wohnverhältnisse oder Spannungen in Sammelunterkünften das Lebensumfeld prägen? Dass sich soziale Ungleichheit durch die Corona-Pandemie weiter verschärft, darauf weist auch das Positionspapier „Solidarität bewahren“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit hin. Darin heißt es auch:
Den Fachkräften gelingt es – auch in diesen Zeiten – sozial benachteiligte und von Ausgrenzung bedrohte oder betroffene Menschen zu erreichen, sie zu begleiten und niedrigschwellige, bedarfsorientierte und individuelle Angebotsformate und somit Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Folglich sind die Arbeitsfelder Streetwork/Mobile Jugendarbeit – wie auch die Wohnungslosen- und Suchthilfe – elementare Bestandteile der kritischen, sozialen Infrastruktur des Landes.
Systemrelevanz der Jugendsozialarbeit
Hofmanns Erfahrung ist jedoch, dass für die Einschätzung der Streetwork als systemrelevant die Unterschiede zwischen dem §13 zur Jugendsozialarbeit und §11 zur Jugendarbeit des Achten Sozialgesetzbuches oftmals nicht berücksichtigt wurden. Fast alle Streetworker*innen arbeiten vorrangig nach dem Paragraphen §13 (Jugendsozialarbeit) und zusätzlich nach §11 (Jugendarbeit). Dadurch erfolgt teilweise eine Gleichsetzung mit anderen Einrichtungen der Jugendarbeit. Setzt man die Jugendarbeit als eine Freizeiteinrichtung, im Sinne eines zusätzlichen Angebots, das man – wenn es hart auf hart kommt – auch einmal aussetzen und weglassen kann, mit der Jugendsozialarbeit gleich, dann werden Jugendliche mit Unterstützungsbedarf einfach fallen gelassen und vergessen. Hofmann betont, dass es ihm keinesfalls darum geht, die Offene Kinder- und Jugendarbeit gegen die Streetwork aufzuwiegen. Aber aus Sicht des Landesverbandes und vieler Streetworker*innen wurde der Unterschied zwischen den beiden Paragrafen in der Diskussion um die Systemrelevanz nicht ausreichend berücksichtigt.
Das Ministerium für Soziales und Integration in Baden-Württemberg erkannte – aufgrund des beharrliche Betreibens des dortigen Landesverbandes Streetwork – am 24. April 2020 die Mobile Jugendarbeit als Teil der Daseinsfürsorge an. Dadurch war die aufsuchende Jugendarbeit als systemrelevant anerkannt.
Deshalb findet Hofmann es sehr wichtig, dass diese Fragen auf Landesebene geklärt werden, denn dann müssen sich die Kommunen danach richten. Sonst hängt es – wie in Hofmanns Fall – vom Engagement und Einsatz des Jugendpflegers und der Kommune vor Ort ab. Er und seine Vorstandskolleg*innen aus dem Landesverband setzen sich stark dafür ein, dass mitgeteilt und bekannt gemacht wird, wie dieses Ziel erreicht werden kann, und sich andere Kommunen und Landkreise daran ein Beispiel nehmen. Und daraus so etwas wie ein Lauffeuer für die Systemrelevanz entsteht.
Von Juliane Schwab