Von Valentine Auer
Zwischen Januar und April 2018 waren 20 Prozent der Menschen, die über die Mittelmeerroute nach Europa flohen, noch minderjährig. Sowohl auf der Fluchtroute als auch beim Ankommen im Aufnahmeland werden der Schutz und die Rechte von Kindern nicht ausreichend gewährleistet. Anlässlich des Internationalen Kindertags am 1. Juni werfen wir einen Blick auf die Situation von Kindern auf der Flucht.
Ausbeutung auf der Mittelmeerroute
2018 flohen bislang 22.734 Menschen über die Mittelmeerroute nach Europa. 20 Prozent bzw. 5.607 von ihnen sind laut den Zahlen des UNHCR noch Kinder (Stichtag: 30. April 2018). Im gesamten Jahr 2017 flohen knapp 33.000 Kinder über das Mittelmeer, der Großteil (60 Prozent) erreichte dabei ohne ihre Familie das Festland in Europa. Gegenüber 2016 stieg der Anteil der Minderjährigen an allen Geflüchteten, die über das Mittelmeer flohen, um 70 Prozent. Der Anteil der unbegleiteten oder getrennten Minderjährigen ging hingegen um 31 Prozent zurück.
Gerade für Kinder und Jugendliche ist die Flucht gefährlich. Mit ein Grund dafür ist, dass Kinder häufiger alleine auf der Flucht sind. Laut einer Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) berichteten 43 Prozent der im Rahmen der Studie befragten Kinder, von nicht-staatlichen Personen oder Organisationen gegen ihren Willen festgehalten worden zu sein. Kinder, die ohne ihre Familie flüchteten, erfuhren diese Ausbeutungsform noch häufiger (48 Prozent), während der Anteil bei den erwachsenen Geflüchteten fast halb so niedrig ist (24 Prozent).
Ein ähnliches Muster lässt sich auch bei anderen Ausbeutungsformen erkennen: 35 Prozent der Kinder arbeiteten ohne ihr abgemachtes Gehalt zu bekommen (Erwachsene: 19 Prozent) und 36 Prozent wurden zur Arbeit gezwungen (Erwachsene: 17 Prozent).
Geflüchtete Minderjährige in Deutschland
Das wichtigste Aufnahmeland für Kinder und Jugendliche, die nach Europa fliehen, ist Deutschland. 2017 stellten insgesamt 89.205 Kinder und Jugendliche einen Asylantrag, 9.084 von ihnen waren unbegleitete Minderjährige. Erst weit hinter Deutschland folgen Frankreich, wo 20.970 Kinder und Jugendliche um internationalen Schutz angesucht haben, und Griechenland mit 19.790 Asylanträgen.
Wirft man einen Blick auf die Altersverteilung der Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland 2017 einen Asylantrag stellten, zeigt sich, dass mehr als die Hälfte (52 Prozent) unter vier Jahre alt ist. Zudem zeigen die Zahlen des Ausländerzentralregisters, dass 2016 rund 25 Prozent aller in Deutschland lebenden Schutzsuchenden minderjährig waren. 2015 lag dieser Wert noch bei 21,1 Prozent.
Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind sowohl nach internationalem als auch nach europäischem und deutschem Recht in besonderem Maße schutzbedürftig. So heißt es in der UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 2), die seit 2010 auch in Deutschland uneingeschränkt gilt, dass kein Kind aufgrund des Status seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen diskriminiert werden darf. In der Aufnahmerichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie der EU werden Minderjährige als besonders schutzbedürftige Gruppe mit besonderen Rechten definiert. Im deutschen Kinder- und Jugendrecht ist festgelegt, dass jedes Kind unabhängig von einem gesicherten Aufenthaltsstatus Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe hat sowie „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII und § 6 SGB VIII).
Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gelten zudem spezielle Regeln: Die Unterbringung und Versorgung erfolgt im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, begleitete Kinder hingegen werden zunächst in Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschafts- und Notunterkünften untergebracht und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt.
Situation für begleitete Minderjährige in Deutschland
Die UNICEF-Studie „Kindheit im Wartezustand“ (2017) beschäftigt sich mit der Situation von begleiteten Kindern und Jugendlichen in deutschen Flüchtlingsunterkünften und zeigt auf, dass weder die Unterbringungsbedingungen noch die Leistungszugänge bundesweit einheitlich sind: „Je nach Zeitpunkt der Ankunft in Deutschland, nach Herkunftsland und Bleibeperspektive, nach Ort und nach Art der Unterbringung sind die Kinder unterschiedlichsten Bedingungen ausgesetzt. Während einige Mädchen und Jungen zügig in die Schule gehen, problemlos einen Arzt aufsuchen können, wenn sie krank sind, kulturell gewohntes und für sie verträgliches Essen erhalten und nur kurz in den Unterkünften verweilen müssen, gilt dies bei weitem nicht einheitlich für alle geflüchteten Kinder und Jugendliche in Deutschland“, heißt es in der Studie. Entgegen der kinderrechtlichen Vorgaben seien geflüchtete Kinder und Jugendliche gegenüber Gleichaltrigen ohne Fluchthintergrund benachteiligt. Dies treffe wiederum insbesondere auf Kinder und Jugendliche zu, die aus sicheren Herkunftsländern kommen oder eine „schlechte Bleibeperspektive“ haben.
Die Aufenthaltsdauer in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften zeigt die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Unterbringung: So geben zwar 78 Prozent der Befragten aus Erstaufnahmeeinrichtungen an, dass sie innerhalb der gesetzlich vorgesehenen sechs Monate die Unterkunft verlassen konnten. Gleichzeitig bleiben 22 Prozent über sechs Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung und 15 Prozent sogar länger als acht Monate. Ein Drittel (34 Prozent) jener Personen, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind, bleiben zwischen ein und drei Jahren dort. 69 Prozent geben eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von mehr als acht Monaten an.
Gravierende Unterschiede zeigen sich auch bei der Beschulung – vor allem in Erstaufnahmeeinrichtungen: 20,3 Prozent gaben an, dass sie nicht beschult werden. 47 Prozent werden lediglich unterkunftsintern oder im Rahmen von Sprachkursen beschult. Nur 29 Prozent besuchen eine Regelschulklasse oder Willkommensklasse, bei Kinder und Jugendlichen in Gemeinschaftsunterkünften liegt dieser Wert bei 89 Prozent.
Situation für unbegleitete Minderjährige in Deutschland
Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) führte im Herbst 2017 eine anonyme Online-Befragung unter Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe zur Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durch. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass für viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge der Zugang zu Bildung gegeben ist. So gaben 62,3 Prozent der Befragten an, dass unter 16-Jährige den Regelunterricht und 31 Prozent Willkommensklassen besuchen. Innerhalb der 16 – 18-Jährigen besuchen 84,7 Prozent Willkommensklasse und 10,1 Prozent den Regelunterricht. Dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete nicht beschult werden, kommt laut den Aussagen der Befragten nur sehr vereinzelt vor.
Gleichzeitig berichten die befragten Fachkräfte von alltagsrelevanten Belastungen, mit denen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge konfrontiert sind. Am stärksten scheinen dabei aufenthaltsrechtliche Unsicherheiten (95 Prozent) sowie die Trennung von der Familie (90,5 Prozent) zu wiegen.
Kritik an Plänen zur Familienzusammenführung und Unterbringung
Durch die aktuellen Pläne der Bundesregierung zur Familienzusammenführung und zur Unterbringung erwarten unterschiedliche Organisationen eine Schlechterstellung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. So kritisiert beispielsweise Tobias Klaus vom BumF, dass durch die geplante Einschränkung des Familiennachzugs (siehe auch „Der Wert der Familie“) „unbegleitete Minderjährige mit subsidiärem Schutz dauerhaft von Eltern und Geschwistern getrennt“ werden: „Statt Minderjährige besserzustellen und besonders zu schützen, ist das Gegenteil geplant. Kinder und Jugendliche, die alleine flüchten müssen, wären die großen Verlierer“. Geplant ist zwar, dass Kinder unter 14 Jahre als besonders Schutzbedürftige beim Nachzug der Eltern bevorzugt werden. Die Realität sei jedoch, dass im Jahr 81 Prozent der unbegleiteten Asylantragsteller*innen 2017 zwischen 16 und 17 Jahre alt sind und damit nicht bevorzugt werden, so Klaus weiter.
Bis Herbst sollen zudem die ersten Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen, kurz „AnKER-Zentren“, eingerichtet werden. Dort sollen Geflüchtete in einer Großunterkunft untergebracht werden und BAMF, BA, Jugendämter, Justiz, Ausländerbehörden und andere Institutionen zusammenarbeiten, um die Verfahren zu beschleunigen. 24 Verbände und Organisationen – darunter Save the Children Deutschland, das Deutsche Kinderhilfswerk, Terre des Hommes, das SOS-Kinderdorf oder World Vision – kritisieren diese Pläne, da sie für Kinder und Familien ungeeignet seien. Die geplanten AnKER-Zentren würden weder den Zugang zu Bildung, Spiel- und Freizeitmöglichkeiten garantieren, noch sei eine bedarfsgerechte Versorgung von Minderjährigen dort möglich, heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme.