Integration: Was kann Europa?

26 Jul 2018
Integration: Was kann Europa?

Von Sebastian Haas

Wer eine bayerische und liberale Perspektive auf die Europa-Politik sucht, kommt an Nadja Hirsch nicht vorbei: Die FDP-Politikerin war von 2009 bis 2014 und ist wieder seit 2017 Abgeordnete des Europaparlaments. Sie gehört dort der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) an. Neben Handel, Wettbewerb und Digitalisierung ist einer von Hirschs Schwerpunkten die europäische Außen- und Migrationspolitik. Grund genug also, sie am Rande der Brüsselreise des Tutzinger Diskurses zu treffen. Ein Gespräch über politische Diskussionskultur, Chancen und Herausforderungen der Integration, den Einwanderungskontinent Europa und die Kompetenzen der Europäischen Union.

Liebe Frau Hirsch, gibt es den Dahrendorf-Kreis innerhalb der FDP noch, den Sie 2010/11 mitbegründet haben?

Hirsch: Hintergrund des Dahrendorf-Kreises war ja, die Partei inhaltlich breiter aufzustellen – inzwischen tun wir das zusammen mit einer anderen progressiven Gruppe innerhalb der FDP. Wir sind noch existent, aber für den Moment zufrieden mit der eigenen breiteren Aufstellung.

Eines der Hauptanliegen des Dahrendorf-Kreises war die Diskussion über die „Lebenschancen in einer gerechten Gesellschaft“. Damit sind wir mitten im Thema des Tutzinger Diskurses. Wie definieren Sie Integration?

Hirsch: Für mich bedeutet Integration, dass eine Person, die sich freiwillig entscheidet, mit und in einer Gesellschaft zu leben, ihre Identität, ihre Wurzeln nicht aufgeben muss – aber auch willens ist, die Rahmenbedingungen, die diese Gesellschaft teilt, zu wertschätzen und zu leben.

Was löst die Art und Weise, mit der die Debatte über Integration und Migration derzeit geführt wird, in Ihnen aus?

Hirsch: Ich finde es sehr schade, dass man die Chancen nicht betont. Es ist in den letzten Jahren immer auf Ängste, Abschottung und Abgrenzung gesetzt worden. Natürlich ist jeder Mensch individuell, speziell, aber man sollte beim Thema Integration doch betonen, was uns eint. Das sind banale Punkte, wie ein normales, gesundes, ruhiges Leben für sich und seine Familie zu haben. Wie das im Einzelfall ausgestaltet wird, mag unterschiedlich sein, aber dieses Grundbedürfnis, diese Motivation kann man doch auch nutzen, um nützliche Prozesse anzuschieben.

“Ein großer Mehrwert für die Gesellschaft”

Das EU-Parlamentsgebäude in Brüssel.

Womit wir bei den Chancen der Integration wären: Was bringt gelungene Integration einer Gesellschaft? Und erkennen Sie Unterschiede vor Ihrer Haustür in Brüssel wie in München?

Hirsch: Definitiv. München ist eine sehr reiche, wohlhabende Stadt, in der wir keine wirklichen Verteilungskämpfe haben. Da können die meisten Menschen – auf welche Weise auch immer – am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Im Vergleich dazu Brüssel – wo die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anders sind, wo eine höhere Arbeitslosigkeit herrscht –, da merkt man eben auch: wo die Rahmenbedingungen gut sind, gelingt Integration eindeutig einfacher.

Was die Chancen betrifft: Am einfachsten zu beschreiben ist der wirtschaftliche Aspekt – Fachkräftemangel, qualifizierte Mitarbeit, das kennen wir alle. Dazu kommt die Vielfalt: Ich genieße es, die Globalisierung im Kleinen durch einzelne Personen erleben zu dürfen. Das ist ein großer Mehrwert für die Gesellschaft.

Wenn ich hier in Brüssel bin und mich auf diese Gesellschaft einlasse, eröffnet mir das doch ganz andere Lebensmöglichkeiten, Bildungsmöglichkeiten, berufliche Möglichkeiten, Möglichkeiten zur menschlichen Entwicklung. Für die Gesellschaft wie für das Individuum ist Integration ein wichtiger Punkt und bietet für beide Seiten Chancen.

Welche drängenden Herausforderungen sehen Sie im Integrationsbereich?

Hirsch: Die echte Herausforderung ist tatsächlich, den Mehrwert unserer offenen Gesellschaft klar zu machen und herauszuarbeiten. Was sind die Kernelemente, die wir für so wichtig erachten, dass wir sie wertschätzen und einfordern? Diese Diskussion ist so schwammig, weil sie nie genau definiert wird: Es geht nicht um Kultur, nicht um Religion, nicht um persönliche Befindlichkeiten oder Lebensentwürfe – es ist ja unsere Stärke, dass wir in all diesen Bereichen Vielfalt haben. Und worauf ist diese Vielfalt zurückzuführen? Auf Demokratie, auf Rechtstaatlichkeit, auf die Gleichberechtigung von Geschlechtern. Das sind die Bausteine, die ermöglichen, dass wir diese Pluralität und Vielfalt gewährleisten können und niemanden einschränken.

Lebensentwürfe zusammenbringen

Ein Ehepaar mit Tochter, das hier um Asyl gebeten hat, weil er politisch aktiv und verfolgt war, hat mir gesagt: Sie schätzen es wahnsinnig, dass ihre Tochter in einem Land aufwachsen wird, in dem sie alle Chancen hat und nicht aufgrund ihres Geschlechtes von bestimmten Chancen ausgeschlossen ist. Da habe ich mir zum ersten Mal gedacht: Hier kommt jemand gezielt nach Europa und bittet hier um Asyl, weil hier eben diese Bausteine so wichtig sind. Und das ist uns in der Diskussion nicht bewusst gewesen. Der Diskurs lief, aber ohne einen klar kommunizierten Inhalt.

Die nächste Herausforderung: Bildung. Ich glaube, dass Schule der Ort ist, um unterschiedliche Lebensentwürfe kennenzulernen. Jede und jeder hat eine Familie, die prägt, mit der man glücklich ist oder nicht – und früh kennenzulernen und damit umzugehen, dass es verschiedene Familien- und Rollenmodelle gibt, ist für eine Gesellschaft extrem wichtig. Dazu kommt die Sprache: Sie ist nun einmal der Schlüssel – ohne Kommunikation auf einem annähernd gleichen Level ist kein Dialog, ist kein Austausch, kein Verständnis möglich. Nicht einmal in Bayern.

All diese Punkte scheinen aus der öffentlichen Diskussion verschwunden zu sein. Auf europäischer Ebene geht es um Grenzschließungen, Fluchtursachenbekämpfung und Ausschiffungsplattformen, selten um Integrationsthemen. Weil die Europäische Union nicht zuständig ist? Nicht zuständig sein will? Nicht zuständig sein kann?

Hirsch: Tatsächlich ist Integration als Politikfeld keine Kompetenz der EU, sondern ist nationalstaatlich oder auf Landesebene geregelt. Formal gesehen ist es kein Aspekt, wird aber natürlich diskutiert – weil Integration der Schlüssel ist, der unter Umständen Ängste auf- oder abbauen kann. Schauen Sie sich die Diskussionen über ein gemeinsames Asyl- und Einwanderungssystem an: Die hängen mit den Erwartung zusammen, ob Menschen, die zu uns nach Europa kommen, die Gesellschaft zum Positiven oder Negativen verändern. Wenn man dabei vorrangig einen negativen Einfluss betont, baut man natürlich eine andere, restriktivere Gesetzgebung auf; dann geht man zum Beispiel davon aus, dass Geld von den Asylsuchenden missbraucht wird – und gibt Sachleistungen aus. Die Frage ist: Mit welcher Brille mache ich Gesetze und leite Maßnahmen ein?

Welche Brille man trägt, hängt in Europa sehr stark von den nationalen Regierungen ab. Aussagen aus Ungarn oder Österreich – das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat – lassen vermuten, dass überhaupt keine Integration gewünscht ist, weil sie zu Solidarisierung und der Verhinderung von Abschiebungen führen kann. Wie kann die EU mit Ländern umgehen, die auf Des-Integration setzen? Ist da noch eine gemeinsame Linie möglich?

Hirsch: Zunächst wieder das Kernproblem: Europa ist für die vorgelagerten Bereiche zuständig. Wir haben schon 2010/11 das Asylpaket überarbeitet, und da war die Argumentation, möglichst lange den Arbeitsmarktzugang zu sperren – damit keine Integration stattfindet, damit die Leute nicht kommen, um Geld zu verdienen. Im gleichen Atemzug hat man gesagt: Die Leute kommen nur her, um Sozialleistungen abzugreifen. Da muss man doch aufschreien und zeigen: Von irgendwas müssen die Menschen doch leben – sei es von den Sozialleistungen oder eben über den Arbeitsmarkt! Widersprüche aufzuzeigen muss in einer sachlichen Diskussion möglich sein. Man muss sich eben für die eine oder andere Seite entscheiden.

Der Werkzeugkasten Migration / Integration

Ich bin überzeugt davon, dass wir einen viel breiteren Werkzeugkasten brauchen: Erstens politisches Asyl; zweitens Kriegsflüchtlinge mit subsidiärem Schutz; drittens Fachkräfte-Zuwanderung; viertens innerhalb der zirkulären Migration – und das wird in kleinen Projekten von der EU erfolgreich aufgesetzt – gezielt aus Ländern mit Schwerpunkt Afrika Menschen für zwei, drei Jahre gezielt nach Europa holen, um ihnen eine Ausbildung und ein Netzwerk mitzugeben; das ermöglicht ihnen, zuhause dieses Wissen einzusetzen und wirtschaftlich eine Existenz aufzubauen.

Man muss sehr viel kreativer darüber nachdenken: Was ist der Antrieb der Menschen, warum kommen sie zu uns? Da sollten wir ansetzen statt zu sagen: Jetzt seid Ihr alle da und jetzt werdet Ihr alle wie eins behandelt. An der Motivation müssen wir ansetzen und nachfragen, wo Integration Sinn ergibt, was sie für die jeweilige Person bedeutet. Die eine bleibt wegen politischen Asyls für den Rest ihres Lebens. Da sieht Integration natürlich anders aus als bei einer Person, die nach zwei Jahren gezielt wieder zurückgeht und vorher Kontakte knüpfen soll.

Zuversichtlich: Nadja Hirsch.

Haben Sie das Gefühl, dass der von Ihnen angesprochene Werkzeugkasten wieder komplett genutzt werden wird – und nicht nur der Vorschlaghammer?

Hirsch: Wir sind doch dazu gezwungen, ihn vollständig zu nutzen, denn wir leben in einem Jahrhundert der Migration. Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine politische Krise. Denn tatsächlich steht doch an der österreichisch-bayerischen Grenze kaum eine Person, die hereinwill. Dennoch ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um eine Lösung zu finden – allerdings vernünftig und unaufgeregt. Auf europäischer Ebene ist das bei einem so sensiblen Thema immer eine Sache des Vertrauens, man muss sich auf Zusagen verlassen können. Und da hat der politische Amoklauf des Bundes-Innenministers nicht dazu beigetragen, dass sich die Situation entspannt hat.

Mit Blick auf die Politik der letzten Jahre beschleicht mich das Gefühl: Die Europäische Union akzeptiert Europa als Einwanderungskontinent. Doch Maßnahmen, um diese Einwanderung zu regeln, kommen zu spät, gar nicht oder werden nicht umgesetzt. Sehen Sie diese Gefahr auch im Integrationsbereich? Ist man einmal mehr zu spät dran?

Hirsch: Man hat ja immer den Eindruck, die Europäische Union gehe seit der Eurokrise fast jeden Moment kaputt. Doch man benötigt eine gewisse Dynamik, um manche Länder zu bewegen, weil sie in ihrem alltäglichen Geschäft gefangen sind. Dass nicht langfristig und in Ruhe gearbeitet wird, sondern nur, wenn der Druck besonders hoch ist, das ist nicht gut, ist aber ein Funktionsmechanismus in der Politik. Im Europäischen Rat zum Beispiel sind fünf von sieben Dossiers in der überarbeiteten Asylgesetzgebung fertig abgestimmt. Wir sind handlungsfähig. Doch die Punkte, die jetzt beschlossen wurden, hatten wir 2011 als Europäisches Parlament bereits angemerkt. Man lernt eben langsam, aber man lernt, und das ist ein Fortschritt. Nicht immer die, die am lautesten schreien, haben Recht.

Politik, Gesellschaft, Individuum – alle sind am Zug

Nun ist das ganze Thema Integration am schwierigsten zu greifen, weil es nicht gesetzlich zu verordnen ist. Ich kann regeln, wie schnell ein Asylverfahren durchgeführt werden muss, ich kann Qualitätsstandards und Fristen festsetzen. Doch diese Herausforderung kann nicht von der Politik alleine getragen werden. Das ist ein langer, intensiver und gesamtgesellschaftlicher Prozess. Wir haben lange den Fehler gemacht, Probleme nicht offen anzusprechen, doch das gehört zu einem demokratischen Prozess. Ein offener Diskurs wie dieser hier in Tutzing ist nötig, weil sonst die extremen Parteien gewinnen werden.

Eine bessere Überleitung zurück zum Tutzinger Diskurs hätte ich nicht finden können. Liebe Frau Hirsch, herzlichen Dank für das Gespräch.

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