„Inklusion ist mehr als Integration“

12 Dez 2018
„Inklusion ist mehr als Integration“
Die Teilnehmer*innen des Diskurses "Wege der Integration" bei der Abschlussveranstaltung. Fotos: Benjamin Storck

Von Valentine Auer

Jeder Mensch soll in seinem Bedürfnis nach Teilhabe unterstützt werden und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter und anderen sozialen Kategorien. So die zentrale Forderung des Tutzinger Diskurses „Wege der Integration“.

Fast ein Jahr ist es nun her, dass sich die Teilnehmer*innen des Tutzinger Diskurses zum ersten Mal trafen. Im Januar 2018 fanden sich die 15 Expert*innen aus Praxis und Wissenschaft zusammen. Eine interdisziplinäre Gruppe, die sich auf vielfältige Weise mit den Themen Migration und Flucht beschäftigt und bei den insgesamt fünf Workshops eine Ideensammlung verfasste, die nun an das Bayerische Staatsministerium für Inneres und Integration übergeben wurde. Statt Integrationsforderungen, die an Migrant*innen herangetragen werden, plädieren sie für eine gesamtgesellschaftliche Inklusion. Was das konkret bedeuten kann, wurde mit rund 120 Gästen aus unterschiedlichsten Bereichen bei der Abschlussveranstaltung des Tutzinger Diskurses diskutiert.

Von der Integration zur Inklusion

Uwe Kraus
Ann-Christin Damm
Simon Goebel

„Bereits ganz am Anfang sind wir über den Begriff der Integration gestolpert und stellten fest, dass dieser für uns nicht so passend ist“, mit diesen Worten eröffnet Uwe Kraus die der Abschlussveranstaltung vorangehende Pressekonferenz. Es ging also zuallererst darum, Begriffe zu klären. Integration, was bedeutet das, was kann es bedeuten und wie wird der Begriff im öffentlichen und im politischen Diskurs verwendet.

Ein Paradigmenwechsel von Integration hin zur Inklusion sei notwendig, woraus sich für die Diskurs-Gruppe unter anderem folgende zentrale Forderungen ergaben: So muss der Blick vermehrt auf Strukturen und Institutionen gelenkt werden, um die Frage zu stellen, ob diese den Anforderungen einer Einwanderungsgesellschaft gerecht werden. „Dazu zählt zum Beispiel, dass der muttersprachliche Ergänzungsunterricht, den es in Deutschland bereits gab, wiedereingeführt wird“, so Ann-Christin Damm. Statt Wertevermittlung, die im Rahmen von Integrationskursen ausschließlich für Migrant*innen stattfindet, fordern die Expert*innen eine Wertebildung, die als Schulfach verankert einen gemeinsamen Dialog über Werte ermöglicht. Und: Es gilt nicht Defizite zu fokussieren, sondern die Kompetenzen in den Mittelpunkt zu rücken, indem Migrant*innen zum Beispiel als Expert*innen, insbesondere als Sprach- und Kulturmittler*innen, eingesetzt werden.

Vom Integrationsgesetz zum inklusiven Partizipationsgesetz

Defizitorientierung zeigt sich zudem in vielen medialen und öffentlichen Diskursen. Migration würde allzu oft als Problem dargestellt und Asyl wird meist aus einer sicherheitspolitischen Perspektive diskutiert, so Simon Goebel. Um den Fokus wieder auf die soziale Teilhabe aller zu richten, fordern die Diskursteilnehmer*innen auch Maßnahmen auf rechtlicher und politischer Ebene: Das Bayerische Integrationsgesetz könne – wie bereits in anderen Bundesländern auch – zu einem Partizipationsgesetz weiterentwickelt und ein einheitliches Bundeseinwanderungsgesetz eingeführt werden. In beiden Gesetzen müsse ein inklusiver Ansatz erarbeitet werden. Dem widerspricht die derzeitige Unterscheidung nach verschiedenen Gruppen: Je nach Herkunftsland oder Bleibeperspektive erhalten Geflüchtete Zugang zu Integrationsmaßnahmen und Förderinstrumenten. Diese Ausschlusskriterien seien volkswirtschaftlich und sozialpolitisch von Nachteil.

Zentrale Orte der Begegnung schaffen

Merima Dzaferovic
Erdoğan Karakaya

Diskursteilnehmer*innen Merima Dzaferovic und Erdoğan Karakaya leiten die Diskussionsrunden bei der Abschlussveranstaltung ein.

„Wir gehen davon aus, dass das Thema Migration mit den zurückgehenden Zahlen der Geflüchteten nicht erledigt ist, sondern, dass Migration dauerhaft ein Thema sein wird. Daher bedauern wir, dass es derzeit so einseitig diskutiert wird“, bestätigt auch Uwe Kraus. Eine Diskussion, die im Moment eher darauf ausgerichtet ist, wie man Menschen losbekommt, und nicht darauf, wie wir Integration in Zukunft gestalten wollen. Eine weitere Forderung ist daher, kommunale Zentren aus- und aufzubauen, um Inklusion vor Ort zu gestalten – sowohl als Ort der Verwaltung als auch als Begegnungsraum. „Alle Wertebildung, alles Zusammenleben ist am Ende nicht abstrakt zu vermitteln, sondern in der Begegnung von Menschen und daran hapert’s“, so Kraus weiter. Dementsprechend benötige es unbürokratische Fördersysteme, damit auch kleine Begegnungsräume auf niederschwelligem Weg entstehen können.

Einen solchen Begegnungsraum zu schaffen, war auch Teil der Abschlussveranstaltung selbst. „Wir haben ganz schön viel gestritten und über Prämissen diskutiert“, blickt Erdogan Karakaya zu Beginn der Veranstaltung auf die letzten Monate zurück. Nun sei es Zeit, dieses Streiten, das Diskutieren in einem größeren Kreis zu erproben. Damit erfüllen die Diskurs-Teilnehmer*innen eine der eigenen Forderungen, denn auch das Streiten findet sich in der Ideensammlung: Konkret benötige es eine „konstruktive Gesprächs- und Streitkultur, in der alle ihre jeweiligen Perspektiven einbringen können und gemeinsam die Formen des Zusammenlebens aushandeln“.

Tisch-Schlaglichter: Einigkeit und Streitkultur

Abschlussveranstaltung Tutzinger Diskurs "Wege der Integration", Copyright: Benjamin Storck

An insgesamt zehn Tischen verteilt, diskutierten die 120 Gäste über zentrale Forderungen der Diskurs-Gruppe. „Die Würde des Menschen ist unantastbar und trotzdem tasten wir die Würde des Menschen an“, hieß es zum Beispiel an dem Tisch, an dem über inklusiven Berufsschulunterricht gesprochen wurde. Das gemeinsame Ziel war klar: Der bestehenden Bildungsungleichheit muss entgegengewirkt werden. Dafür benötige es eine Professionalisierung von Lehrer*innen, Traumabewältigungs-Maßnahmen und Psychotherapie-Angebote fehlen. Kritisiert wurde auch der permanente Druck, den Schüler*innen durch drohende Abschiebungen erleben.

„Das Problem ist, dass Menschen immer stellvertretend für eine Gruppe gesehen werden“ – so ein Schlaglicht auf den Tisch zur „offenen Gesellschaft“. Wie können Sonderstrukturen und Förderungsmaßnahmen aussehen, die nicht defizit-orientiert oder demütigend sind? Eben Maßnahmen, die die Menschen nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren. Klar, es braucht Institutionen, die der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht werden. Bezüglich der Umsetzung kamen jedoch sehr unterschiedliche Antworten. Für Einigkeit reichte die Zeit nicht. Aber das war auch nicht das Ziel.

Und dennoch: Mehr Einigkeit zeigten die Diskutant*innen am Tisch zur Förderung von immigrierten Müttern. Ja, es benötigt mehr Maßnahmen, die auch immigrierten Müttern mehr Teilhabe ermöglichen. Das bedeutet, dass Angebote flexibler werden und sich an die Bedürfnisse anpassen müssen. Also Zeiten, die kinderfreundlich sind, und Plätze für Kinderbetreuungsangebote. Und ja, es müssen Perspektiven geschaffen, Empowerment ermöglicht werden. Alle nicken. Kurze Stille. „So richtig kontrovers wird es in der Gruppe nicht, oder?“ Muss es ja auch nicht.

Diskursteilnehmerin Armaghan Naghipour fasst die Diskussion rund um den Themenbereich "Politik & Recht" zusammen.

„Menschen dürfen nicht gedemütigt werden und doch werden sie das tagtäglich“. Manchmal ähneln sich die Sätze, unabhängig von Thema und Tisch. In diesem Fall spricht eine Ehrenamtliche am Tisch zu den Migrationsberatungsdiensten. Generell finden sich hier viele Ehrenamtliche ein und es ist eine Art Frust zu spüren. Die Forderung: Migrationsberatungsdienste müssen weiterentwickelt werden, um Integration dauerhaft und flächendeckend zu ermöglichen. Das Gefühl vieler Ehrenamtlichen: „Zu Beginn waren die Behörden sehr kooperativ, mittlerweile habe ich das Gefühl, dass sie gegen uns arbeiten“.

Tischwechsel. Sozialer Ausgleich steht auf dem Kärtchen. Viele der Diskutant*innen haben sich an diesen Tisch gesetzt, da sie den Begriff nicht ganz greifen können. Sozialer Ausgleich statt sozialer Ungleichheit und Ressentiments, so die dazugehörende Forderung. Zentral sei es dabei, dass der Migrationshintergrund ein Grund für soziale Ungleichheit sein kann, aber nicht muss. So ist gerade in Deutschland die Vererbung von Bildungschancen nach wie vor groß. Daher gelte es, Fördermaßnahmen nicht speziell mit Migrant*innen zu verbinden, sondern für all jene, die soziale Ungleichheit erfahren, zu öffnen. Und: „Man muss in die Institutionen gehen, um diskriminierende und exkludierende Strukturen aufzudecken“, hieß es an diesem Tisch weiter.

Diese Schlaglichter zeigen einerseits die oftmals herrschende Einigkeit – trotz der Diversität der Tischgruppen. Denn die Probleme sind bekannt. Andererseits verweisen sie auf die Notwendigkeit des Diskutierens, um Lösungen der Probleme, um „Wege der Inklusion“ zu finden. „Es ist ein bemerkenswerter Weg, der hier gegangen wurde“, schlussfolgert auch Akademie-Direktorin Ursula Münch am Ende des Abends.

 

Die Ideensammlung des Tutzinger Diskurses können Sie hier herunterladen. Im Magazin finden Sie eine Auswahl der Beiträge für diese Webseite, die Online-Version finden Sie hier.

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