Von den „entsicherten Jahrzehnten“ zur AfD

15 Mrz 2018
Von den „entsicherten Jahrzehnten“ zur AfD
Copyright: Nele Heitmeyer

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer gehört zu den profiliertesten Experten zum Thema Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Im Interview wirft er einen Blick auf die lange Vorgeschichte autoritärer und nationalistischer Strömungen in der Bundesrepublik und erklärt, warum das Thema Integration nicht nur auf Geflüchtete und Migrant*innen beschränkt sein sollte. 

Zur Person: Wilhelm Heitmeyer ist Professor an der Universität Bielefeld, wo er 1996 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung gründete und bis 2013 leitete. Der Soziologe forscht seit über 30 Jahren zu den Themen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Von 2002 bis 2011 gab er bei Suhrkamp die Reihe Deutsche Zustände heraus, eine Langzeitstudie über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bundesrepublik. Im Juni wird im gleichen Verlag sein neues Buch Autoritäre Versuchungen erscheinen.

Herr Heitmeyer, wie würden Sie die Politik der AfD benennen? 

Von der flotten Definition als „Rechtspopulisten“ habe ich mich inzwischen verabschiedet. Ich denke, man sollte sich davor hüten, diesen Begriff noch weiter zu verwenden. Es handelt sich dabei um eine Verharmlosung, die der Entwicklung der Partei keine Rechnung trägt. Die AfD repräsentiert inzwischen sehr deutlich einen autoritären Nationalradikalismus.

Was verstehen Sie darunter?

Nun, der Begriff besteht ja aus drei Elementen. Dem Autoritären, dem Nationalen und dem Radikalismus. Das Autoritäre äußert sich im zentralen Paradigma der Kontrolle. Wesentlich ist die Vorstellung, man — also zumeist das „deutsche Volk“ — müsse bestimmte Dinge wieder „unter Kontrolle“ bekommen. Nicht nur sollen die Grenzen wieder unter Kontrolle gestellt werden, auch die Menschen müssen ihre Biographien wieder unter Kontrolle bekommen. Beim Nationalen geht es um das Deutschsein als Quelle eines Überlegenheitsgefühls und der damit verbundenen Ausgrenzung und Abwertung anderer. Das schließt auch revisionistische Deutungen deutscher Geschichte mit ein. Und mit Radikalismus meine ich Grenzüberschreitung als Prinzip. Die AfD operiert bewusst mit Begriffen, die auch zur Legitimation von Gewalt dienen können, ohne dass die führenden Köpfe selbst Gewalt propagieren. Man wandert auf der Gratlinie zwischen einem lockeren Rechtspopulismus auf der einen und einem Rechtsextremismus und Neo-Nazismus auf der anderen Seite. Genau dies erklärt die Erfolgsspur des autoritären Nationalradikalismus der AfD.

Warum hat die Partei damit Erfolg? Warum fühlen sich Menschen zu einer Partei hingezogen, die autoritär und nationalistisch ist? 

Es ist falsch, den Erfolg der AfD allein aus dem politischen System heraus zu erklären und erst recht nicht als kurzfristiges Phänomen. Man kann nicht so tun, als wäre die AfD wie ein Gewitter über uns gekommen. Man muss die Vorgeschichte in den Blick nehmen. Der wachsende Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und regionale Separatismus in Europa haben sich bereits um die letzte Jahrtausendwende deutlich abgezeichnet — sie wurden nur nicht besonders interessiert wahrgenommen. Unsere Langzeituntersuchungen zeigen, dass die entsprechenden Einstellungsmuster lange vor der Gründung der AfD in der Gesellschaft virulent waren. Bereits im Jahr 2002 fanden wir ein Einstellungsmuster mit fremdenfeindlichen, antisemitischen und autoritär-aggressiven Bestandteilen bei rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung! Das war nicht nur lange vor der Finanzkrise, lange vor der AfD, sondern auch lange vor Pegida und der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Das heißt, es muss  gesellschaftliche Ursachen dafür geben.

Gehen wir also zurück zur Jahrtausendwende. Was ist damals passiert?

Es zeichnete sich damals eine doppelte Entwicklung ab, deren Folgen wir heute global zu spüren bekommen. Auf der einen Seite ist durch immer stärkere Politiken der Deregulierung ein autoritärer Kapitalismus entstanden. Dieser entfesselte Kapitalismus hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen riesigen Kontrollgewinn zu verzeichnen. Vor allem in Gestalt des Finanzkapitalismus. Er konnte in immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vordringen, die bis dato noch nicht ökonomisiert waren und dort weitgehend ungehindert seine Prinzipien von Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit durchsetzen. Letztlich werden die Menschen selbst nach Kriterien wirtschaftlicher Funktionalität bewertet. Das bedeutet auch, dass Menschen abgewertet werden, die für die kapitalistische Effizienz nicht funktional sind. Dies trifft vor allem Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Behinderte, Migranten und Flüchtlinge.

Gleichzeitig hat die nationalstaatliche Politik riesige Kontrollverluste registrieren müssen. Es kam zu einer regelrechten Demokratieentleerung. Der Apparat funktionierte, aber die Vertrauenssubstanz in Teilen der Bevölkerung ging verloren. Die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel, dass man eine „marktkonforme Demokratie“ brauche, ist letztlich eine Kapitulationserklärung. Es ist eine Auslieferung des demokratischen Systems an den Markt.

Wie ist die Entwicklung seither verlaufen?

Es folgten zwei Jahrzehnte, die ich „die entsicherten Jahrzehnte” nenne. Sie waren vor allem von Krisen geprägt. Es begann mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem anschließenden War on Terror. In Bezug auf den Umgang mit Minderheiten in der westlichen Welt war das ein Wendepunkt. Insbesondere für Muslime. In Deutschland kam dann ab 2005 für bestimmte Gruppen Hartz IV als soziale Erfahrung hinzu. Ab dem Jahr 2008 erlebten wir eine globale Finanzkrise. Und 2015 schließlich das, was man unter dem Wort „Flüchtlingskrise“ subsumiert. Wir konnten messen, dass sich insbesondere nach der Finanzkrise, zwischen 2009 und 2011, bereits vorhandene rechtspopulistische Einstellungsmuster nochmals deutlich radikalisiert haben. Zugleich konnten wir nicht nur erhöhte Demonstrations-, sondern auch erhöhte Gewaltbereitschaft messen.

Die Geflüchteten, die 2015 kamen, trafen also auf eine Gesellschaft, in der sich Teile bereits radikalisiert hatten?

Das zeigen unsere Langzeitforschungen, ja. Die AfD hat es nach ihrer Rechtsentwicklung 2015 dann geschafft, diesen Menschen einen politischen Ort zu geben und sie über die Emotionalisierung sozialer Probleme zu mobilisieren. Anfang des Jahrtausends waren diese Menschen noch bei den Volksparteien als Wähler oder vielfach Nichtwähler.

Warum radikalisieren sich Menschen in Krisen?

Krisen haben zwei entscheidende Merkmale. Erstens setzen Krisen die sicherheitsverbürgenden Routinen des Alltags und des Politikbetriebs gewissermaßen außer Kraft. Was für gewöhnlich gilt, gilt in Zeiten der Krise plötzlich nicht mehr. Zweitens lassen sich die Zustände vor der Krise nicht mehr wiederherstellen. Krisen stellen eine Zäsur dar, hinter die man nicht mehr zurückkommt. Dadurch, dass in Krisen vermeintlich unverrückbare Sicherheiten wegbrechen, entstehen wahrgenommene oder erfahrene Kontrollverluste und Orientierungslosigkeiten. Und in einigen Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Bedrohung. Wir haben beobachtet, dass es in den vergangenen Jahrzehnten unter Teilen der Bevölkerung zu vielfältigen Prozessen sozialer Desintegration gekommen ist. In Anbetracht der politisch-ökonomischen Situation ist unter Teilen der Bevölkerung ein Gefühl von Ohnmacht und Einflusslosigkeit entstanden. Und das Gefühl von Einflusslosigkeit ist eine ganz wichtige Voraussetzung für Wut.

Wie vollzieht sich soziale Desintegration?

Jede Gesellschaft muss ihren Mitgliedern die soziale Integration ermöglichen. Dazu muss die Gesellschaft bestimmte Gelegenheitsstrukturen zur Verfügung stellen. Soziale Desintegration erfolgt, wenn diese Strukturen nicht mehr funktionstüchtig sind und den Menschen die Integration in die Gesellschaft dadurch verwehrt bleibt.

Die Integration beziehungsweise Desintegration erfolgt unserem Ansatz zufolge in drei Dimensionen. Die erste ist die strukturelle Dimension. Habe ich einen Job, eine Wohnung, eine gute Adresse? Kann ich mich selbst und meine Familie versorgen? Es geht dabei nicht nur um die Möglichkeit, sich selbst zu reproduzieren, sondern auch um die Möglichkeit, sich einen Status zu erarbeiten oder zu sichern, der gesellschaftliche Anerkennung verleiht. Kein Mensch kann auf Dauer ohne Anerkennung leben. Derzeit erleben wir aber, dass die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik, eine Geschichte des sozialen Aufstiegs, an ihr Ende gekommen ist. Für Teile der Bevölkerung waren die letzten Jahre von sozialen Abstiegen — oder zumindest der Angst davor — geprägt, bis in die Mittelschichten hinein. Soziale Desintegration erfolgt, wenn Menschen in eine Abstiegsspirale geraten oder es nicht mehr schaffen, sich innerhalb der Gesellschaft einen Status zu erwerben, der ihnen gesellschaftliche Anerkennung verleiht.

Die zweite Dimension betrifft die Teilnahme an der öffentlichen Debatte und am politischen Prozess. Habe ich oder hat meine Gruppe eine Chance, wahrgenommen zu werden in Hinblick auf basale Werte wie Fairness, Solidarität, Gerechtigkeit — oder werde ich und meine Gruppe von den Regierenden überhaupt nicht wahrgenommen? Es gilt: Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Hier geht es darum, moralische Anerkennung als Bürger erster Klasse zu erhalten. Der entscheidende Punkt ist, dass Menschen wahrgenommen werden wollen. Und wenn das nicht geschieht, dann erleiden sie moralische Anerkennungsverluste. Sie fühlen sich ausgegrenzt und reagieren darauf, indem sie an anderen Stellen — nicht mehr bei den liberalen politischen Angeboten — nach dieser Anerkennung suchen, in der Hoffnung, dass man ihnen dort eine Stimme gibt.

Die dritte Dimension ist die der Vergemeinschaftung: Habe ich oder meine Gruppe die Möglichkeit, von anderen in ihrer Identität anerkannt zu werden und daraus emotionale Anerkennung zu generieren? Das wird immer schwieriger in einer Zeit, in der viele soziale Bindungen zerbröckeln und Zugehörigkeiten nicht mehr stabil sind.

Die nachvollziehbare Enttäuschung über eigene Anerkennungsverluste ist das eine. Das andere ist aber der wachsende Fremdenhass, die Gewalt gegenüber anderen. Wie hängt soziale Desintegration mit dem zusammen, was Sie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennen? 

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit meint, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit — also unabhängig von ihrem individuellen Verhalten — zum Ziel von Abwertung, Diskriminierung und Gewalt werden. Unsere Untersuchungen zeigen, dass es immer dort, wo es Anerkennungsverluste gibt, zu solcher gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit kommt. Die Gruppe, die abgewertet wird, hat nichts mit dem Anerkennungsverlust selbst zu tun. Es geht aber darum, dass eine Gruppe, die Anerkennungsverluste erlitten hat, sich selbst aufwertet, indem sie eine andere — meist ohnehin schon schwächere Gruppe — abwertet. Es geht darum, den eigenen Status zu stabilisieren, in dem man sich sagt: Es sind ja noch Gruppen, die stehen unter uns.

Das ist ein Mechanismus, der funktioniert und den sich die AfD zu Nutze macht. Es ist ein komplizierter Umwandlungsprozess von realen sozialen Erfahrungen in die ideologisch motivierte Diskriminierung von Gruppen. Auf der einen Seite spricht die AfD Kontrollverluste und Anerkennungsverluste an, die für Teile der Bevölkerung sehr real sind. Es geht um reale politische Probleme, wie die steigende Ungleichheit in der Gesellschaft etwa. Dann aber beginnt der ideologische Kampf. Statt politische Lösungen anzubieten, verbreitet man eine Ideologie der Ungleichwertigkeit. In der Abwertung der Anderen pumpt man sich in seinen eigenen Anerkennungsmöglichkeiten sozusagen auf, um ein positives Selbstbild zu generieren. Das Deutschsein ist nicht umsonst die Schlüsselkategorie des autoritären Nationalradikalismus. Das Deutschsein kann einem keiner nehmen. Es ist die letzte Quelle für Anerkennung, wenn einem sonst nichts bleibt. Die AfD bündelt die individuellen Ohnmachtsgefühle der Menschen und transformiert sie in kollektive Machtphantasien.

Unter den Anhänger*innen der AfD finden sich aber nicht nur solche, die man als sozial desintegriert beschreiben kann. Die AfD wird auch in wohlhabenden Vierteln Hamburgs gewählt. Unter den Vertreter*innen ihrer Ideologie sind auch Richter oder Professorinnen.

Das stimmt. Unter der Gefolgschaft des autoritären Nationalradikalismus haben wir es auch mit einem Phänomen zu tun, das ich die „rohe Bürgerlichkeit“ nenne. Überlegenheitsattitüden sind verbunden mit  einem Jargon der Verachtung. Dazu haben Eliten – wie etwa der Politiker Thilo Sarrazin oder der Philosoph Peter Sloterdijk – beigetragen. Ein Effekt ist die Normalisierung solcher Positionen. Das Gefährliche daran ist, dass alles, was als „normal“ gilt, kaum noch problematisiert werden kann.

Was treibt diese Menschen an, wenn nicht die Desintegrationsangst? 

Es gibt die klassischen Forschungen des Autoritarismus als Erklärung des deutschen Faschismus durch Adorno und andere. Dieses alte Verständnis von Autoritarismus ist heute nicht mehr unumschränkt gültig, weil sich vieles gesellschaftlich verändert hat. Der alte Autoritarismus mit seiner unterwürfigen Folgebereitschaft von politischen Eliten wurde ja erklärt etwa durch zerstörerische Erziehungspraktiken, die es heute in dem Ausmaße nicht mehr gibt. Heute haben wir es mit zwei weiteren, neuen Autoritarismen zu tun. Den einen nenne ich den anomischen Autoritarismus, der geprägt ist von Desintegrationsangst und Orientierungssuche. Der andere ist der selbstbewusste Autoritarismus der Eliten. Hier geht es um Macht — und um sonst nichts. Hinter glatter Fassade zeigt die rohe Bürgerlichkeit dieselbe Verachtung gegenüber sozial Schwächeren — inklusive derer, die ihnen folgen.

Wie kann man dem autoritären Nationalradikalismus politisch begegnen?

Zunächst mal muss man sehen, dass unsere Gesellschaft vor einer Reihe von Problemen steht, die keine Erfindung der AfD sind. Das sind Probleme, die tatsächlich existieren, und die vom Politikbetrieb länger ignoriert worden sind. Der politische Auftrag wäre, sich sehr viel stärker um eine integrierende Gesellschaft zu kümmern. Dabei vertrete ich seit Jahren die These, dass es ein Fehler ist, den Begriff der Integration ausschließlich für Migranten und Flüchtlinge zu reservieren. Wie ich erklärt habe, sind auch Teile der ursprünglich deutschen Bevölkerung nicht integriert. Sie leiden — genauso wie Migranten und Flüchtlinge — unter teilweise erheblichen Zugangs- und Anerkennungsproblemen. Wenn man den sozialen Frieden nicht noch weiter zerstören will, muss der Staat sich darum kümmern, dass diese Menschen strukturelle Möglichkeiten vorfinden, um Anerkennung zu generieren. Es geht um eine dreifache Integrationspolitik. Die Frage des Sozialstaates ist dabei von enormer Wichtigkeit. Denn der  autoritäre Kapitalismus hat überhaupt kein Interesse, diese Probleme zu lösen. Sein Prinzip ist ja nicht das des gesellschaftlichen Zusammenhalts — sondern das der „auseinandertreibenden“ Konkurrenz. Dabei zeigen internationale Untersuchungen: Ungleichheit zersetzt das soziale Gefüge von Gesellschaften. Dies kommt dem autoritären Nationalradikalismus zugute und beflügelt ein politisches Wachstumsmodell.

Herr Heitmeyer, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dennis Mehmet.

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