„Es wird alles bunter, heterogener, spannender“

26 Nov 2018
„Es wird alles bunter, heterogener, spannender“
Prof. Dr. Ahmet Derecik, Copyright: Kristin Enderweit

Von Valentine Auer & Benjamin Storck

Prof. Dr. Ahmet Derecik studierte Sportwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum sowie Bewegungs- und Sportpädagogik an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2013 ist er Juniorprofessor im Arbeitsbereich Sport und Gesellschaft an der Universität Osnabrück. Außerdem ist er im Vorstand des Vereins „Integration durch Sport und Bildung“ e.V., der die Integration sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher – mit und ohne Migrationshintergrund – durch Bewegung, Sport und Bildung fördert.

Sie forschen und arbeiten im Bereich „Integration durch Sport“. Wie würden Sie den Begriff der Integration in diesem Sinne definieren?

Im Moment läuft die Integrationsdiskussion so, dass Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung in die deutsche Gesellschaft, in deren verschiedene Teilstrukturen eingebunden werden sollen. Das eigentliche Potential ist jedoch ein wechselseitiger Dialog. Menschen, die migrieren, bringen wertvolle kulturelle Aspekte und Werte mit. Daher wäre es wünschenswert, wenn Menschen gegenseitig voneinander lernen und aus diesem Potpourri jeder und jede für sich sein individuelles Cluster schmieden kann. Wir leben in einer globalisierten Gesellschaft. Diese kann nur funktionieren, wenn alle Normen und Werte, die existieren und auch akzeptabel sind – zum Beispiel im Sinne des deutschen Grundgesetzes –, Anspruch auf Geltung haben. Das wäre eine unglaubliche Bereicherung. Im Türkischen gibt es eine Redewendung: Eine Sprache, ein Mensch. Übertragen wir das auf einen Sportverein, bei dem viele Kulturen miteinander agieren und voneinander lernen, ist man nicht nur ein Mensch. Die Zugehörigkeit oder die Heimat ist nicht mehr nur auf ein Land beschränkt, sondern wesentlich flexibler. Das wäre mein persönlicher Wunsch: Dass Menschen sich nicht in Richtung Nationalitäten, sondern in Richtung Kosmopolitismus entwickeln.

Sie haben bereits eine mögliche Vielfalt in Sportvereinen angesprochen. Wie stark sind Migrant*innen und Geflüchtete tatsächlich in deutschen Sportvereinen vertreten?

Beim Zugang sind Migration oder die Ethnie nicht die entscheidenden Faktoren, sondern vielmehr Bildung und der sozioökonomische Status. Mädchen mit geringem Sozialkapital konnten von den Sportvereinen noch nicht in ihre Strukturen eingebunden werden. Natürlich gibt es Vereine, die schaffen das. Wesentlich mehr Vereine haben hier jedoch noch große Zugangshürden. Bei Jungen macht der sozioökonomische Status kaum einen Unterschied. Zu Menschen mit Fluchterfahrung gibt es noch keine Statistiken. Die Erfahrungsberichte zeigen, dass es eine Reihe von Best-Practice-Beispielen gibt, die es – wie der SJC Hövelriege – schaffen, Geflüchtete in den Verein zu holen. Indem sie zum Beispiel mit ihrem Bully [Anmerkung: VW-Bus] in die Unterkünfte fahren und die einzelnen Standorte abfahren. Das ist aber noch nicht der Regelfall und daher noch auszubauen. Dazu muss aber klargestellt werden, dass ein klassischer Sportverein nicht die Funktion hat, zur Integration beizutragen. Ein klassischer Sportverein muss die Interessen der Mitglieder erfüllen, in der Regel heißt das, bestimmte Sportangebote durchzuführen – und zwar wettkampforientiert. Daher müssen sich Sportvereine die Frage stellen, wie sie arbeiten wollen. Klassisch – im Sinne der Leistungsorientierung – oder wollen sie sich für gesamtgesellschaftliche Aufgaben öffnen. Wenn Integrationsmaßnahmen in einem Sportverein greifen sollen, ist es notwendig, dass sich der Sportverein Integration auf die Fahnen schreibt – am besten konzeptionell in einem Leitbild fixiert.

Welche konkreten Schritte benötigt es vonseiten des Sportvereins, um diese konzeptionelle Öffnung sinnvoll voranzutreiben?

Die Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Fluchterfahrung muss in einem ersten Schritt natürlich erreicht werden. Dafür braucht es eine gewisse Art von Öffentlichkeitsarbeit. Kooperationen mit der Kinder- und Jugendhilfe, mit der Schule, mit religiösen Organisationen, mit Jugend- und Sozialarbeitern können helfen, diesen Zugang zu erhalten. Darüber hinaus muss das Angebot zielgruppenspezifisch gestaltet werden – also weg von einem reinen Wettkampfbetrieb, hin zu einem niederschwelligen Angebot. Es muss über Mitgliedsbeiträge nachgedacht werden. Für Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status kann ein Mitgliedsbeitrag von fünf Euro schon eine Hürde sein. Auch die Anfahrtswege müssen teilweise organisiert werden, da Menschen mit Fluchterfahrung in Unterkünften leben, die oftmals außerhalb der Städte oder des Dorfkerns liegen.

Welche positiven Effekte hätte die Einbindung von Migrant*innen und Geflüchteten – sowohl für die Zielgruppe als auch für den Sportverein?

Gerade Geflüchtete leben oft in Unterkünften oder Wohnungen unter sich, ein gegenseitiges Kennenlernen kann durch diese Exklusion nicht gelingen. Sportvereine existieren überall, auch in ländlichen Regionen, sie besitzen ein hohes Attraktionspotential. Der gemeinschaftsstiftende Wert kann sehr gut genutzt werden, um aus dieser Isolation zu kommen. Die Menschen profitieren dann auf verschiedenen Ebenen: Auf der sozialen Ebene fungiert der Sportverein als Kontaktbörse. Auf kultureller Ebene können bestimmte Normen und Werte, aber auch die Sprache erfahren werden. Ein letzter wichtiger Punkt ist die Identifikation: Es prägt sich ein, wenn jemand Kontakte mit Menschen hat, die eine Art Willkommenskultur leben. Das ist unheimlich wichtig, da Integration nicht nur im Kopf, sondern vor allem emotional funktioniert, also durch das Erfahren und Spüren von einer Art Wärme, einer Art Heimat. Auch für den Sportverein gibt es eine Reihe positiver Effekte, der wichtigste: Insbesondere in ländlichen Regionen kann der Spielbetrieb aufgrund des demographischen Wandels nicht aufrechterhalten werden. Bindet man Jugendliche, die neu nach Deutschland kommen, in einen Sportverein ein, kann der Spielbetrieb weitergeführt werden und es wird alles bunter, heterogener und vielleicht auch spannender.

Der SJC Hövelriege unterstützt Geflüchtete auch in anderen Bereichen, beim Spracherwerb, beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Bildungsangeboten: Denken Sie, dass es eine gute Idee ist, diese zwei Ebenen – die Begegnung auf Augenhöhe durch Sport und die bürokratische Unterstützung von Geflüchteten – in einem Sportverein zu vereinen?

Das ist sehr begrüßenswert. Allerdings muss sich jeder Verein fragen, ob und wie er das überhaupt stemmen kann. Da der Sportverein meist ehrenamtlich organisiert ist, braucht man Menschen, die diese Angebote durchführen können, oder man kooperiert mit anderen Organisationen, Institutionen oder Vereinen. Es ist wichtig, dass sich der Sportverein nicht selbst überbürdet, denn irgendwann überfordert er sich damit. Es gibt Vereine wie der SJC Hövelriege, die schaffen das. Das ist auch ein Leuchtturm, aber das ist keine Selbstverständlichkeit, die man von jedem Verein erwarten darf.

Was kann die Politik dazu beitragen, um Integration nicht nur am Arbeitsmarkt und im Bildungsbereich voranzutreiben, sondern auch in puncto Freizeit und Sport?

Forderungen an die Politik liegen für mich auf zwei Ebenen: Es benötigt ein klares Statement, das zeigt, dass Menschen mit Fluchterfahrung in Deutschland willkommen sind und Integration durch Sport erwünscht ist. Im Integrationsplan der deutschen Bundesregierung ist das auch verankert, sogar prominent vertreten. Allerdings wird das in meinen Augen konterkariert durch gewisse politische Strömungen – durch den Mitglieder-Zuwachs für die AfD, aber auch durch die aktuelle Orientierung der CSU. Das ist nicht gewinnbringend für Integrationsmaßnahmen – sowohl im Sport als auch darüber hinaus. Auch der Sportverein selbst kann Maßnahmen speziell gegen Antirassismus entwickeln, um ein Signal zu setzen und sich klar gegen aktuelle politische Entwicklungen zu positionieren. Auf der anderen Ebene wünsche ich mir deutlich mehr Fördermaßnahmen. Wenn Integration erwünscht ist, dann ist es natürlich für jeden Verein wichtig, strukturelle Förderungen und finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Wir haben auf oberster Ebene bereits Maßnahmen, in die viele Gelder fließen. Es sollte aber mehr in die Fläche gegossen werden, um den Vereinen, die von diesen Maßnahmen noch nicht profitieren konnten, ein Stück weit Impulse zu geben. Damit Vereine in Zukunft diese Arbeit mit eigenen Kräften stemmen können.

Seite 1: “Der Ball ist ein einfacheres Kommunikationsmittel als der Mund”

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