Von Juliane Schwab
Tobias Burdukat ist Gründer und Initiator des „Dorfes der Jugend” im sächsischen Grimma. Seit 2013 können sich junge Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Spitzenfabrik mit verschiedenen Projekten ausprobieren und ihre Ideen umsetzen. 2019 erhielt das Projekt den Sächsischen Förderpreis für Demokratie. Tobias Burdukat, der auch Mitglied im Beirat des aktuellen Diskursprojekts ist, berichtet im Interview, was für ihn eine gute Jugendarbeit ausmacht und wie die Idee zum „Dorf der Jugend” entstanden ist.
Was verstehen Sie unter einer emanzipatorischen und kritischen Jugendarbeit?
Die emanzipatorischen Aspekte kommen vor allem in der Jugendphase zum Tragen und ich verstehe unter einer emanzipatorischen Jugendarbeit im ursprünglichen Sinn, dass sie eine Funktion als Ermöglicherin und Vermittlerin bei den Jugendlichen einnimmt. Die jungen Menschen sollen in ihren ganz individuellen Bedürfnissen und Ideen bestärkt werden und was auch ganz besonders wichtig ist, dass ihnen die Ideen nicht vorgegeben werden. Das würde ja bedeuten, dass die Lebenswelt des Sozialarbeiters bzw. der Sozialarbeiterin die Lebenswelt der Jugendlichen beeinflussen könnte. Unter tatsächlicher emanzipatorischer Jugendarbeit verstehe ich, dass sie die Jugendlichen begleitet und wenn nötig unterstützt, etwa wenn Konflikte in der Gruppe auftreten. In den ursprünglichen Selbstverwaltungsbeispielen der 70er und 80er Jahre ließ sich gut nachvollziehen, wie emanzipatorische Jugendarbeit mit den Jugendlichen interagierte. Und die Jugendlichen dadurch – auch wenn das jetzt vielleicht abstrakt klingt – die Hoheit über die Soziale Arbeit hatten. Sie haben auch selbständig Personalentscheidungen getroffen.
Emanzipatorische Jugendarbeit achtet auch darauf, dass sie nicht zu einer Kontroll- und Ordnungsinstanz für andere wird, also z.B. für die Kommune, die Polizei oder das Jugendamt. Und sie versucht, diese Kontroll- und Ordnungsfunktion, die ihr mehr oder weniger unterschwellig aufgetragen wird, abzufedern und auf keinen Fall an die Jugendlichen weiterzugeben. Dann leistet eine emanzipatorische Jugendarbeit ihren Beitrag dazu, die Jugendlichen darin zu unterstützen, sich zu emanzipieren, sich eine eigene Meinung zu bilden und einen facettenreichen Überblick über die bestehende Meinungs- und Ideenvielfalt zu bekommen. Eine solche Jugendarbeit trägt auch dazu bei, Kontroversen zu eröffnen und gemeinsam mit den Jugendlichen zu diskutieren.
Der kritische Aspekt ist etwas komplexer, da dieser aus meiner Sicht zwar wünschenswert aber faktisch nicht vorhanden ist. Eine kritische Jugendarbeit würde bedeuten, das Thema „Jugend“ mehr und vehementer in aktuelle Diskurse innerhalb der Sozialen Arbeit und innerhalb der Öffentlichkeit einzubringen. Und das findet höchstens marginal statt. Eine kritische Jugendarbeit müsste auch kritisch in die Sozialarbeit selbst intervenieren, denn aus meiner Sicht wurde die emanzipatorische Jugendarbeit durch den ganzen Dienstleistungs-, Ordnungs- und Kontrollwahn in den letzten 30 Jahren zerstört, so dass sie kaum noch vorhanden ist.
Worin sehen Sie zentrale Aufgaben der Sozialarbeiter*innen?
Die emanzipatorische Jugendarbeit hat ja eigentlich die Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen. Das ist durchaus eine Crux für viele Sozialarbeiter*innen im Sinne von: Dann bin ich ja bald arbeitslos. Ja! Aber zugleich ist es auch so, dass wieder Jugendliche nachkommen und dadurch wieder neue Arbeitsfelder und Aufgaben entstehen.
Und ob nun Jugendliche Sozialarbeiter*innen in Anspruch nehmen oder nicht, liegt allein im Ermessen der Jugendlichen. Aber es ist wichtig, dass Sozialarbeiter*innen potentiell zur Verfügung stehen, denn sonst wissen die Jugendlichen überhaupt nicht, dass sie Ansprechpartner*innen haben und die sie, wenn gewünscht, unterstützen. Gerade auch wenn Jugendliche in ihrer Kommune etwas realisieren wollen, wissen sie oft nicht, an wen sie sich mit konkreten Anliegen wenden sollen. Es sei denn ihre Eltern arbeiten zum Beispiel bei der Stadtverwaltung.
Das ist eines der Kernprobleme: Wenn es keine Sozialarbeiter*innen mehr für die Jugendliche gibt, dann haben die Jugendlichen auch nicht mehr auf dem Schirm, dass es Ansprechpartner*innen für sie gibt, die sich ihrer Bedürfnissen annehmen und sich mit ihnen gemeinsam für diese Bedürfnisse einsetzen würden. Es ist ein komischer Kreislauf, der da eingesetzt hat, und den gilt es jetzt zu durchbrechen. Das dauert aber eine Weile.
Es hat auch etwas mit dem Selbstverständnis der Sozialarbeiter*innen zu tun, worin sie eigentlich ihre Aufgabe in der offenen Kinder- und Jugendarbeit sehen. Dieses Verständnis führt dann dazu, dass ein Bewusstsein für die Aufgaben der Sozialarbeiter*innen auch bei anderen Stellen aber insbesondere bei den Jugendlichen entsteht, dass es da jemanden für sie gibt. Aber wenn Jugendhäuser darauf reduziert sind, dass dort nachmittags die erweiterte Hortbetreuung mit Hausaufgabenhilfe stattfindet, dann wird sich kein 16jähriger Jugendlicher angesprochen fühlen. Geschweige denn, dass er auf die Idee käme, sich an die zuständigen Sozialarbeiter*innen zu wenden, deren Aufgabe allein darin besteht, die nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung für den erweiterten Schulbetrieb sicherzustellen. Das ist ein Punkt, der nur schwierig wieder aufzubrechen ist. Die Jugend- bzw. Sozialarbeit ist im Prinzip dazu verkommen und ist nur noch darauf reduziert.
Es braucht tatsächlich erst einmal wieder eine kritische Kinder- und Jugendarbeit, die diese Problematik thematisiert.
Wie ist das Projekt „Dorf der Jugend“ entstanden?
In meiner Bachelorarbeit habe ich mir Gedanken zum folgenden Thema gemacht: Jugendarbeit hat zum Ziel, selbständige und eigenständige Jugendliche hervorzubringen. Die Jugendarbeit ist aber selbst sehr weit davon entfernt, selbständig und eigenständig zu sein. Daraus ist für mich ein Widerspruch entstanden: Wie soll eine Jugendarbeit etwas vermitteln, das sie selbst nicht kann bzw. selbst nicht lebt? Das war ein Ansatzpunkt für das Projekt und der andere Punkt war, dass die Jugendarbeit im Jahr 2010 gerade in Sachsen extrem zurückgefahren wurde. Bis dahin gab es immer wieder da und dort Kürzungen und 2010 gab es dann eine krasse Kürzungswelle, von der man im Nachgang sagen muss, dass die offene Kinder- und Jugendarbeit danach faktisch nicht mehr existierte. Sie war schlicht und ergreifend nach der Kürzungswelle nicht mehr durchführbar. Ich habe mich daraufhin gefragt, ob es nicht trotz der bescheidenen finanziellen Situation möglich sein sollte, Jugendarbeit auch wieder in ländlichen Räumen durchzuführen. Und so ist dann die Idee zum „Dorf der Jugend“ entstanden. Konkret: Ich bin ein Sozialarbeiter, es gibt aber viele unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen, die unterschiedliches haben wollen. Da ich nur einer bin, ist es nahezu unmöglich, jeder Gruppe zu helfen. Also sollte bei den Jugendlichen ein Bewusstsein dafür entstehen, dass sie anfangen, sich trotz ihrer unterschiedlichen Interessen untereinander zu helfen. Das war die Initialzündung.
Und zum Thema Bedürfnisse: Schon in den 70er Jahren haben sich die Sozialarbeiter*innen darüber beschwert, dass die Jugendlichen, mit denen sie arbeiten, eine passive Konsumhaltung an den Tag legen. Aber genau das ist es ja: Die Aufgabe der Sozialarbeiter*innen besteht darin, genau an dem Punkt anzusetzen und einen Teil der passiven Konsument*innen dazu zu bringen, wieder zu aktiven Gestalter*innen zu werden. Das ist die Aufgabe. Und wenn das bei 20-30% der Jugendlichen, mit denen gearbeitet wird, funktioniert und ankommt, dann ist doch das Ziel vollkommen erreicht. Wichtig ist der Kontakt zu den Jugendlichen, das ist die Voraussetzung. Und die Angebote, die man nah an den Jugendlichen entwickelt, und durch die sie etwas über sich, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten lernen und erfahren. Einige von ihnen wollen dann selbst etwas anbieten. So ist das Projekt „Dorf der Jugend“ entstanden und gewachsen.
Ich habe einfach das gemacht, was Soziale Arbeit seit den 70er Jahren proklamiert und realisieren möchte. Wenn man sich die Literatur zu emanzipatorischer Jugendarbeit durchliest, dann wird man feststellen, dass ich nichts Außergewöhnliches gemacht habe. Ich habe einfach nur versucht praktisch umzusetzen, was die Theorie seit 40 bis 50 Jahren erzählt.
Mehr zum „Dorf der Jugend”:
Von der Spitzenfabrik zur gelebten Utopie, Amadeu Antonio Stiftung vom 05.12.2019;
Offene Jugendkulturarbeit – Das „Dorf der Jugend” in Sachsen, ein Podcast des Deutschlandfunk vom 18.10.2019;
das „Dorf der Jugend“ gehört auch zu den Neulandgewinnern der Förderrunde 2017-2019;
Dieser Sozialarbeiter baut in der sächsischen Provinz ein Dorf für Jugendliche, ze:tt vom 09.04.2019.