„Ein digitales Produkt kann keinen Therapeuten ersetzen“

10 Mai 2019
„Ein digitales Produkt kann keinen Therapeuten ersetzen“
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Von Valentine Auer

Kristina Wilms wurde durch ihre Krankheit zur Unternehmerin: Sie litt an Depression und entwickelte aufbauend auf ihren Erfahrungen ARYA. Eine App, die Menschen mit Depressionen vor, während und nach einer Therapie unterstützt, indem die Nutzer*innen ihre Stimmungen und ihr Körpergefühl dokumentieren. Vor einem halben Jahr wurde die App verkauft. Im Gespräch mit Valentine Auer spricht Wilms über ihre Erfahrung, die sie bei ARYA gemacht hat, und über digitale Lösungen, die psychisch Erkrankte vor, während und nach einer Therapie begleiten können.

 

Frau Wilms, zu Beginn würde mich die Geschichte von ARYA interessieren: Können Sie ein wenig erklären, wie Sie auf die Idee zu dieser App gekommen sind?

Damals war ich selbst in einer Therapie, weil ich eine Depression hatte. In dieser kognitiven Verhaltenstherapie musste ich zu einem großen Teil meine Stimmung beobachten, welche Faktoren meine Stimmung beeinflussen oder wie sich mein Körper anfühlt. Dafür füllte ich mehrmals täglich Fragebögen aus. Das fand ich umständlich, unangenehm und peinlich. Daher habe ich angefangen, diese Sachen in mein Handy einzutragen. So ist die Idee zu der App entstanden. Wir haben uns überlegt, was den Betroffenen neben dieser Tagebuchfunktion noch helfen kann und wie wir das digital umsetzen können. Gleichzeitig haben wir noch einen Verein gegründet, um gegen die Stigmatisierung in der Gesellschaft zu kämpfen.

 

Bei dieser Arbeit haben Sie sich mit den Möglichkeiten digitaler Technologien auseinandergesetzt, um Betroffene von psychologischen Krankheiten zu unterstützen. Wie können diese Technologien konkret helfen?

Mit ARYA haben wir beispielsweise eine App entwickelt, die die Therapie und die Menschen im Alltag unterstützen soll. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass ein digitales Produkt eine Therapeutin oder einen Therapeuten ersetzen kann. Es ging darum, therapeutische Interventionen besser in den Alltag zu integrieren. Darunter fällt eben das Beobachten meines Stimmungsverlaufs. Das macht es für alle Seiten angenehmer, weil der Therapeut diese Aufzeichnungen als PDF-Auswertung erhalten kann. In der Verhaltenstherapie sollen Patienten auch Übungen im Alltag machen – zum Beispiel einmal in der Woche eine schöne Sache unternehmen. Erinnerungen an diese Aufgaben kann man auch wunderbar in so eine App integrieren. Das sind Möglichkeiten, um während einer Therapie zu unterstützen.

 

Gleichzeitig sind die Wartezeiten bis zu einer Therapie sehr lange. Gibt es auch für diese Wartezeiten Möglichkeiten, um die Betroffenen zu unterstützen?

Derzeit liegen die Wartezeiten bei rund drei Monaten. Diese Lücke im Versorgungsprozess kann mit digitalen Lösungen überbrückt werden. In der Burn-Out-Prävention gibt es zum Beispiel ein Programm, das dauert sechs Wochen. In jeder dieser Wochen wird ein Thema behandelt und das Programm liefert edukative Inhalte, kleine Übungen, Vorschläge zu Aktivitäten im Alltag. Dadurch können die Menschen schon vor der eigentlichen Therapie beginnen, sich mit sich selbst und der jeweiligen Krankheit zu beschäftigen.

 

Und dann gibt es noch die Zeit nach der Therapie…

Genau. 55 Prozent aller Patienten erleiden mindesten einen Rückfall. Nach jedem Rückfall wird die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Rückfall deutlich höher. Daher ist es wichtig, dass Menschen nach dem Abschluss einer Therapie weiter betreut werden oder zumindest den Kontakt nicht verlieren. In diesem Bereich ist das Thema Künstliche Intelligenz spannend: Wenn Betroffene bereits während der Therapie mit einer App gearbeitet haben, wurden schon Daten generiert. Darauf aufbauend kann der Algorithmus wunderbar lernen und problematische Situationen erkennen. Es gibt zwar eine festgelegte Bandbreite von Frühwarnzeichen, aber diese können von Patient zu Patient unterschiedlich sein. So ein Algorithmus kann dann sagen „Kristina, die Situation hatten wir schon vor drei Monaten. Vielleicht macht es Sinn, einen Gang zurückzuschalten?” Das hilft dabei, sich mit diesen Zeichen bewusster auseinanderzusetzen und vielleicht schon Hilfe zu suchen, bevor es zu einem Rückfall kommt.

 

Bei der Beschreibung von ARYA heißt es, dass die App ein „empathisch AI-getriebener Therapieassistent“ sein soll. Für Empathie braucht es aber eine Beziehungsebene. Auch andere Apps schmücken sich damit, ein Online-Therapieprogramm zu sein. Kann Künstliche Intelligenz in diesen sensiblen Bereich der Therapie eingreifen und eine empathische Beziehung aufbauen?

Ich finde nicht, dass wir schon so weit sind. Niemand könnte die Verantwortung dafür übernehmen, um eine Therapie durchzuführen. Meiner Meinung nach wäre das auch falsch, weil der menschliche Kontakt, das Zusammensitzen in einem Raum eine andere Qualität hat als ein digitales Produkt. Was jedoch möglich ist und bereits gemacht wird, ist, dass Psychologen und Psychologinnen in den Prozess integriert werden. Das heißt: Betroffene arbeiten mit einer digitalen Oberfläche und in regelmäßigen Abständen werden echte Menschen zwischengeschaltet und man telefoniert zum Beispiel mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin. Vor allem in den USA wird gerade sehr viel zu Künstlicher Intelligenz im therapeutischen Bereich gearbeitet. Eine wichtige Fragestellung ist dabei, wie Ansätze aus einem Coaching, aus einer Therapie in ein digitales Produkt umgewandelt werden können, sodass es wirklich zu einer Verhaltensänderung bei den Nutzern kommt. Sport-Apps oder Apps zur Raucherentwöhnung können das bereits recht gut. Im psychologischen Bereich ist das theoretisch möglich, in der Praxis jedoch nicht.

 

Gibt es für Apps mit therapeutischen Ansätzen Wirksamkeitsstudien, die die Auswirkungen auf die Betroffenen und Nutzer*innen belegen?

Ja, es gibt Studien, insbesondere für Präventionsprogramme. Allerdings muss man dabei auf das Studiendesign achten. Ein großes Problem, das viele dieser Programme haben, ist die hohe Drop-Out-Rate. Die Menschen fangen motiviert an, machen dann aber oftmals nicht weiter, weil der persönliche Kontakt fehlt. Nimmt man jedoch an so einer Studie teil, wird man betreut und hat einen persönlichen Kontakt zu denen, die die Studie durchführen. Dass dieser Effekt die Ergebnisse beeinflussen kann, muss im Auge behalten werden. Aber dennoch: Auch wenn diese digitalen Produkte keine Therapie ersetzen können, gibt es meiner Meinung nach definitiv eine Wirkung. Das hängt natürlich davon ab, wie affin die Betroffenen gegenüber solchen digitalen Lösungen sind. Aber insbesondere aufgrund der prekären Versorgungssituation in Deutschland ist jede Hilfe, die Patienten unterstützt, nicht falsch.

 

Gleichzeitig werden im gesamten eHealth-Bereich hochsensible Daten produziert. Dadurch liegt ein großes Missbrauchspotential vor, das auch vom Deutschen Ethikrat in einer Stellungnahme angesprochen wurde. Wo liegt für Sie die Grenze, wenn es um den Einsatz von Daten im Gesundheitsbereich geht?

In Europa und in Deutschland gibt es bereits sehr strikte Vorgaben, wie Daten zu handhaben sind. Da gibt es nicht viel Raum für Missbrauch. Das heißt alle Daten müssen auf einem externen Server sein und sie müssen doppelt verschlüsselt werden. Die Daten selbst sind verschlüsselt, aber auch der Rückschluss von Name zu Inhalt muss verschlüsselt sein. Das sieht in diesem ganzen Wellness-Bereich vielleicht anders aus. Das ist ein anderes Geschäftsmodell, da werden die Daten auch für gezielte Werbung genutzt. Das passiert im Gesundheitsbereich nicht, da dieser wissenschafts- und evidenzgetrieben ist – zumindest, wenn man es ernst meint und in das Versorgungssystem in Deutschland rein will.

 

Dann stellt sich jedoch die Frage, woher die Nutzer*innen wissen, dass die Betreiber*innen der App es ernst meinen.

Ein Hinweis darauf sind die Datenschutzbestimmungen, die in Deutschland öffentlich sein müssen und denen man als Nutzer zustimmen muss. Im Gesundheitsbereich gibt es außerdem eine Medizinproduktzertifizierung. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Frage nach Partnerschaften, mit wem arbeiten die Betreiber zusammen, mit Versicherungen oder Krankenkassen beispielsweise? Aber natürlich gibt es momentan in diesem Ökosystem viele Unsicherheiten, weil viele Unternehmen auf den Markt drängen. Diese Unsicherheit und diese Angst ist real, das muss man miteinbeziehen. Würde das Thema Datenschutz vernünftig und vor allem transparenter kommuniziert werden, würde der Diskurs darüber wahrscheinlich auch ein anderer sein.

 

Zum Schluss würde ich noch gerne das Thema Stigmatisierung ansprechen. Sie haben bereits gesagt, dass es Ihnen wichtig ist gegen Stigmatisierungen aufzutreten. Wo sehen Sie diesbezüglich die Rolle von digitalen Möglichkeiten?

Digitale Lösungen bieten einen sicheren Raum, der frei von Stigmatisierungen ist. Durch Online-Communities, unterschiedliche Plattformen und Netzwerke kann man Sachen anders öffentlich machen. Wir haben zum Beispiel nicht über die App sondern privat mit anderen Organisationen Videos gedreht und online veröffentlicht und einen Dokumentarfilm zum Thema gemacht. Nach der Ausstrahlung dieses Films gab es plötzlich einen enormen Austausch auf unserer Facebook-Seite. Das war sehr schön. Das Internet bietet hier sehr viel Potential, Themen anzusprechen, die man sonst nicht so einfach ansprechen kann.

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