Das “Dorfgespräch” – Dorferneuerung in den Köpfen

21 Jan 2020
Das "Dorfgespräch" - Dorferneuerung in den Köpfen
Florian Wenzel und Christian Boeser-Schnebel, Foto: Beate Winterer

Von Juliane Schwab

Florian Wenzel (FW) ist selbständiger Moderator und Prozessbegleiter im Bereich des Demokratie-Lernens. Dr. Christian Boeser-Schnebel (CBS) ist Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenen- und Weiterbildung an der Universität Augsburg und Leiter des Netzwerks Politische Bildung Bayern. Beide sind auch als Mitglieder im Beirat des aktuellen Tutzinger Diskurses aktiv.
Im Interview berichten sie über das Projekt “Dorfgespräch”, das sie gemeinsam initiiert und umgesetzt haben. Die “Dorfgespräche” fanden von 2017 bis 2019 in insgesamt drei Kommunen im Landkreis Rosenheim statt. Gefördert wurde das Modellprojekt durch die Bundeszentrale für politische Bildung.

 

Was ist eigentlich das „Dorfgespräch“?

FW: Also das Dorfgespräch ist zweierlei: Zum einen ist es ein Dialogformat, zu dem an drei Abenden ganz unterschiedliche Menschen aus dem Dorf zusammenkommen und sich erst einmal über ihre Wertvorstellungen austauschen. Manchmal entwickeln sich daraus auch Projekte. Und zum anderen ist das Dorfgespräch – und das ist vielleicht sogar der wichtigere Aspekt –ein Entwicklungsprozess im Dorf. Bis es nämlich zu diesen Dialogabenden kommt, geht es im Vorfeld darum, möglichst unterschiedliche Gruppen und Menschen, im Zentrum und am Rand stehende, in den Prozess einzubinden.

CBS: Wichtig finde ich auch, den Titel in den Blick zu nehmen: „Dorfgespräch – Wir haben uns ja gerade noch gefehlt.“ Es ist das leicht augenzwinkernde, nicht ganz so bierernste. Ursprünglich hatten wir vor, es „Dorfgespräch – Wir müssen reden!“ zu nennen. Und als Untertitel vermutlich: „Für Demokratie und Toleranz“.

FW: Aber da wir mit einer Texterin zusammengearbeitet haben, sind wir ihren Anregungen in vielem gefolgt und haben klarere und pointiertere Formulierungen gefunden. Das setzt dann auch andere Signale.

Was war denn die Initialzündung für das „Dorfgespräch“?

FW: Ich wohne in der Gemeinde Halfing in der Nähe von Rosenheim und 2017 erfolgte die Ankündigung, dass wir Geflüchtete bekommen. Daraufhin gab es ein Treffen im Rathaus mit ca. 50 Leuten, die sich dafür oder auch dagegen positionierten. Da war auf einmal eine Vielfalt erkennbar, die man sonst nie gesehen hat. Daraus entstand dann die Idee für die Dorfgespräche, dass man mit Menschen in Kontakt kommt, neben denen man möglicher Weise unmittelbar wohnt, sich aber noch nie intensiv mit ihnen auseinandergesetzt hat.

CBS: Und dann gab es eine Ausschreibung der Bundeszentrale für politische Bildung, in der es um die Förderung von Integration ging. Integration bedeutet ja nicht nur, dass man Geflüchtete in die Gesamtgesellschaft integriert, sondern dass das ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz ist.

Was sind Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Formaten der Bürgerbeteiligung?

FW: Für uns geht es bei den Dorfgesprächen auch um eine Dorferneuerung in den Köpfen. Viele Beteiligungsformate sind an bestimmten Themen orientiert. Bei uns gibt es kein zu bearbeitendes Thema in dem Sinn, sondern es geht zunächst einmal darum, verschiedenste Menschen zusammenzubringen. Und die Dialogabende sind so gestaltet, dass man sich sehr direkt und sehr emotional über die eigenen Wertvorstellungen begegnet. Im Vordergrund steht wirklich der Prozess der Begegnung, der Prozess der Auseinandersetzung – es ist auch konflikthaft angelegt – und wenn sich aus den Begegnungen Projekte ergeben, ist das schön. Es ist aber nicht unser erklärtes Ziel.

CBS: Bei Formaten der Bürgerbeteiligung gibt es üblicher Weise eine kleine Gruppe, die etwas vorbereitet, dann wird man eingeladen dazuzukommen und sich zu beteiligen. Bei den Dorfgesprächen wird schon im Vorbereitungsprozess versucht, die Vielfalt des Dorfes abzubilden und dadurch das Konzept für diese Menschen und diesen Ort passend zu machen. Was sich dann im Weiteren daraus entwickelt, das kann von Ort zu Ort auch sehr unterschiedlich sein.

FW: Wir sind in diesem Vorprozess immer ganz stark auf der Suche nach Grenzgängern und Brückenbauern, Egon EndresEgon Endres ist Professor für Sozialwissenschaften und Sozialmanagement an der Katholischen Stiftungshochschule München. hat diese Begriffe geprägt. Sie sind eigentlich die Schlüsselpersonen im Dorf, die verschiedene Welten verbinden können. Das sind oft auch Leute, die nicht im Verein engagiert sind und die vielleicht auch kein politisches Amt innehaben, die sich selbst vielleicht sogar eher am Rand verorten würden. Aber genau die werden zu Motoren der Veränderung und das zeigt sich auch bei den Dialogabenden. Sie haben bisweilen einen ganz neuen, einen viel weiteren Blick auf das Dorf als vielleicht der Trachtenvorstand oder der Dirigent der Blasmusik.

CBS: Die sogenannten Grenzgänger und Brückenbauer sind auch deshalb sehr wichtig, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, dass der Bürgermeister oder der Gemeinderat Experten von außerhalb eingeladen hat, um zu erklären, wie das Zusammenleben im Dorf besser gestaltet werden kann. Und genau diesen Eindruck wollen wir nicht bedienen. Sondern es geht ganz im Gegenteil darum, dass eben aus dem Dorf heraus eine heterogene Gruppe überlegt, was sie im Dorf auf den Weg bringen möchte. Wir als Moderatoren sind nur unterstützend da, aber die Initiative muss von Leuten aus dem Dorf selbst kommen.

Wie steht es um die Akzeptanz der Grenzgänger und Brückenbauer in der Dorfgemeinschaft?

FW: Ein ganz wichtiger Punkt für uns in diesem Prozess ist die produktive Irritation bestehender Machtstrukturen. Tatsächlich ist es teilweise eine Irritation für die Alteingesessenen und diejenigen, die sich selbst als „das Dorf“ wahrnehmen. Und es ist sehr wichtig, damit auch wertschätzend umzugehen. Aber Menschen, die bis dato eher am Rand standen und sich nicht als wirklich zugehörig gefühlt haben, werden dadurch massiv bestärkt. Und im besten Falle finden dann auf dieser Basis auch neue Begegnungen statt. Das klappt allerdings nicht immer. Ich glaube, es ist auch wichtig, die Möglichkeit des Scheiterns im Blick zu behalten, wenn man einen Prozess so offen angeht.

CBS: Personen vor Institutionen ist das zentrale Motto. Und das ist natürlich herausfordernd für die gewachsenen Machtstrukturen. Wir schreiben also nicht den Vorstand des Trachtenvereins an, ob Interesse an der Teilnahme bei den Dorfgesprächen besteht, sondern wir sprechen ein Mitglied des Trachtenvereins an und fragen, wer Interesse an einem solchen Projekt haben könnte. Und diese Person ist dann wieder eine Art Brückenbauer und Vermittler in seine Struktur hinein. Das ist eine Gratwanderung, bei der formale Hierarchien quasi ein stückweit nicht beachtet werden, aber gerade dadurch tun sich neue Möglichkeiten auf. Und diese neue Vielfalt ist in der Entwicklungsgruppe sehr wichtig, aber sie irritiert eben auch.

Was waren für Sie wichtige Momente während der Dialogabende?

CBS: Wir hatten in der Mitte des Raumes ein Dorfzentrum aufgebaut und die Leute sollten sich positionieren, wie nah sie sich dem Dorf zugehörig fühlen, ganz nah am Zentrum oder eher randständig. Eine Frau stand relativ am Rand und wurde gefragt, warum sie so weit außen steht. Sie sagte, sie sei vor ein paar Jahren zugezogen und fühle sich noch nicht so richtig integriert. Daraufhin entgegnete man ihr von innen sehr deutlich und scharf, dass sie selbst daran schuld sei. Das ist eine wichtige Schlüsselstelle, die man entweder schnell wegmoderiert oder auf die man eingehen kann. Wir haben daraufhin die weiter außen Stehenden gefragt, wie sie über diese Aussage denken. Diese erwiderten, dass sie sich gerne integriert hätten, dies aber in ihrer Wahrnehmung nicht möglich sei, da sich „drinnen“ nur geschlossene Gruppen befänden. Das ließ sich dann gut als Teufelskreis visualisieren und verdeutlichen, dass jeweils dem anderen unterstellt wird verschlossen zu sein. Und wenn man das einmal erkennt, dann passiert da etwas ganz Wichtiges. Das ist eine ganz kleine Intervention, die aber einen deutlichen Aha-Effekt hervorrufen kann.

FW: Dazu fällt mir auch noch etwas ein. Bei derselben Methode – aber an einem anderen Ort – stellte sich der Bürgermeister ganz vornehmlich nicht direkt mittig, weil er sich nicht anmaßen wollte, das Machtzentrum in der Mitte zu sein. Dafür haben sich drei junge Geflüchtete genau dorthin gestellt. Da war der Bürgermeister auch ein bisschen irritiert und hat sie gefragt, was für sie dahintersteht. Für die drei gab es keine andere Option: Wo sonst sollten sie stehen? Da sie keine Heimat mehr haben, gibt es für sie nur diesen Ort und dort haben sie sich in die Mitte gestellt. Diese spontanen und unplanbaren Momente sind die, die man dann ergreifen kann und durch die sich in der Folge etwas bei den Menschen verändern kann.

CBS: Das ist auch wirklich genau diese Herausforderung, mit dem Unerwarteten umzugehen, es produktiv aufzunehmen und auch nutzen zu können, die das Ganze sehr spannend macht.

FW: Eines unserer Grundprinzipien lautet: Demokratie leben, heißt mit Dilemmata umgehen. Demokratie heißt eben nicht, wir einigen uns alle und dann kommt das richtige Ergebnis raus und dann wird die Demokratie gut, sondern Demokratie heißt: immer wieder auf Spannungsfelder zurückgeworfen zu werden. Und wenn Konflikte aufkommen, dann fragen wir immer, welche Werte eigentlich dahinterstehen. Dadurch reibt man sich nicht weiter an dem Thema des Konflikts auf, sondern begibt sich auf die Werteebene. Auch das Projekt hat ja so angefangen, es hieß eigentlich „Wertedialoge im ländlichen Raum“ oder so ähnlich.

Zum Thema Räumlichkeiten: Wo finden die „Dorfgespräche“ eigentlich statt?

FW: Die Räume sind tatsächlich etwas ganz Wichtiges für so ein offenes Format. Das würden wir nie in einer klassischen Bildungseinrichtung durchführen, denn gerade im ländlichen Raum ist das eine sehr starke Schwelle. Das beste, das wir hatten, war ein Bierzelt. Dort gehen wirklich alle hin. Wir haben dort die Sitzreihen weggeräumt und stattdessen mit flexiblen Papphockern gearbeitet. Diese müssen auch zunächst von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammengebaut werden und dann gilt es, sich einen Platz zu suchen. So wird der Raum gewissermaßen gemeinsam erschaffen. Die „Dorfgespräche“ haben aber auch schon in einer Behinderteneinrichtung oder dem Pfarrheim stattgefunden. Wobei es uns gerade im ländlichen Raum ein Anliegen ist, interessante Orte zu finden, die schon an sich signalisieren, dass da etwas anderes passiert, wie zum Beispiel die Scheune eines Bauernhofs oder auch eine Industriebrache. Die Gestaltung des Rahmens ist sehr wichtig und nimmt einen beträchtlichen Teil der Vorbereitungszeit ein. Es soll ein Ort zum Wohlfühlen sein, an dem man sich gerne aufhält – stets auch mit einem schönen Buffet.

Sind Sie auch in anderen Bundesländern unterwegs?

CBS: Bislang lag der Schwerpunkt im Landkreis Rosenheim, aber unabhängig davon gab es aus Sachsen und Thüringen immer wieder Anfragen vom Volkshochschulverband oder auch von anderen Akteuren der politischen Bildung, die Interesse signalisierten. Immer mit der Frage nach politischer Bildung in der gespaltenen Gesellschaft und wie man letztlich damit umgehen kann. Gerade aus den fünf neuen Bundesländern besteht sehr viel Nachfrage. Das „Dorfgespräch“ ist dort auch sehr schnell bekannt geworden und wir wurden oft eingeladen, das Projekt vor Ort vorzustellen. Da scheint tatsächlich ein großer Bedarf zu sein, gerade auch in Anbetracht der Wahlergebnisse, die zu Spaltungen innerhalb der Gemeinschaft führen. Wie damit umzugehen ist und wie man wieder miteinander ins Gespräch kommt, das scheint dort sehr viele umzutreiben.

FW: Bei den Gesprächen mit den Multiplikatoren vor Ort war ein interessanter Unterschied zu hier, dass es sehr viel stärker um politische Positionierung geht. Ich glaube, das wird interessant, weil die Dorfgespräche dort deutlich politischer ablaufen werden. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit und die Relevanz, in einen Diskurs zu kommen, ist dort schon deutlich höher.

 

Seite 1: Diskurs-Auftakt “Miteinander vor Ort”

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