„Der Ball ist ein einfacheres Kommunikationsmittel als der Mund“

26 Nov 2018
„Der Ball ist ein einfacheres Kommunikationsmittel als der Mund“
SJC Hövelriege, Copyright: Benjamin Storck

Von Valentine Auer & Benjamin Storck

Es ist Freitagabend im 1.000-Einwohner*innen-Ort Hövelriege. Die Szenerie erinnert an einen der kleinen Fußballvereine, die es in Deutschland nur allzu häufig gibt. Abendstimmung, Namensrufe, Schulterklopfen und – seltener – auch Applaus. Dancehall und Reggae schallen über den Kunstrasen. Ein ganz normales Abendtraining also. Der einzige Unterschied, fast alle hier sind geflohen, auf der Suche nach Schutz und einem menschenwürdigen Leben. Hier, im SJC Hövelriege, wird mehr als nur Fußball gespielt.

Fußball als Kontaktbörse für Geflüchtete

Das weiß zum Beispiel Datta Mridul. Er lebt seit 2011 in Hövelhof und kommt seit 2017 regelmäßig. Mridul hat hier Freund*innen gefunden, die ihm viel bedeuten, die ihm trotz fehlendem positiven Asylbescheid Zukunftsperspektiven aufzeigen und Hoffnung geben. Oder der 24-jährige Austine Osadebe. Er ist vor zwei Jahren von Nigeria nach Deutschland gekommen und seit einem Jahr beim SJC Hövelriege. Auch er hat neue Freund*innen im Verein gefunden. Sein Wunsch: In Zukunft in einer Profi-Mannschaft spielen.

„Fußball ist ein soziales Spiel, man braucht nicht viel dafür, aber man kommt schnell mit Menschen aus anderen Ländern in Kontakt, auch wenn die Sprache noch nicht so weit ist. Der Ball ist manchmal ein einfacheres Kommunikationsmittel als der Mund“, erklärt Christoph Bretschneider das integrative Potential des Fußballs. Er ist zweiter Vorsitzender des SJC Hövelriege sowie Trainer. Bereits seit seiner Kindheit ist er im Verein verankert. Auch er betont, dass der SJC Hövelriege ein etwas anderer Verein ist. „Das liegt an seiner Geschichte, das hat eine gewisse Tradition“, so Bretschneider weiter. Damit meint er eine humanitäre Tradition: Bereits Anfang der 1990er Jahre öffnete sich der Verein für Geflüchtete, die den Jugoslawienkriegen entkommen sind. Als junger Verein war der SJC Hövelriege auf Menschen unterschiedlicher Herkunft angewiesen, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurde das gemeinsame Spielen schon damals mit weiteren Unterstützungsangeboten begleitet: Warmes Essen bereitzustellen, war eine Notwendigkeit.

Heute ist die Unterstützung und Inklusion Geflüchteter selbstverständlicher Teil der Vereinsarbeit, bestätigt Felix Linnemann. Auch er ist seit seiner Kindheit im Verein aktiv und mittlerweile Jugendtrainer sowie Ehrenamtskoordinator für den Ausbau des Vereins als Begegnungsstätte. „Die Leute kommen sich näher und nach drei, vier Wochen sind Geflüchtete Teil einer Mannschaft. Geflüchtete rutschen so nach und nach rein und sind, ohne es selbst zu merken oder ohne, dass wir es merken, Teil des Vereinslebens“.

Gegen Rassismus und Faschismus

Umkleidekabine SJC Hövelriege, Copyright: Benjamin Storck

Vereinsleben bedeutet dabei eben nicht nur Sport. Die Tätigkeiten beim SJC Hövelriege reichen von Holzarbeiten in der am Gelände bereitstehenden Schreinerei über Theaterprojekte für Kinder und Jugendliche bis hin zu Ausflügen – zum Beispiel nach Griechenland. Die Jugendfahrten nach Griechenland stellen dabei nicht nur den Sport, sondern antirassistische und antifaschistische Arbeit in den Mittelpunkt. Auch das eine Entwicklung, die Tradition hat und in der Geschichte der Jugendfahrten begründet liegt.

Lange Zeit konnte der SJC Hövelriege ein Gelände in einem griechischen Dorf nutzen. Dafür sorgte der damalige Bürgermeister dort. Erst nach dem Tod des Bürgermeisters erfuhren die Mitglieder des SJC Hövelriege, dass dieser in Kalavryta aufgewachsen ist. Einem Dorf, in dem die SS 1944 fast alle Bewohner*innen umgebracht hat. Er hat dies als Kind erlebt. Er konnte sich verstecken und überlebte den Terror. „40 Jahre später hat er dafür gesorgt, dass wir unsere Jugendfahrten machen konnten. Wir haben seine Frau gefragt, wieso er das gemacht hat, obwohl er eigentlich einen wahnsinnigen Hass auf die Deutschen haben müsste. Seine Frau antwortete, dass er das gemacht hat, weil er dieses Unrecht nicht persönlich, sondern als Unrecht der Menschen wahrnahm. Er wollte es wieder gut machen. Er wollte, dass sich Deutsche und Griechen wieder verstehen. Unsere Reaktion darauf kann man gar nicht in Worte fassen“, so Bretschneider. Immer wieder muss er schlucken während er die Geschichte erzählt.

Diesem Versuch der Wiedergutmachung will sich der Verein durch die regelmäßigen Jugendfahrten nach Griechenland anschließen. Und auch in Hövelriege spielt Antirassismus-Arbeit eine Rolle, wenn auch nicht im Rahmen konkreter Maßnahmen, so doch im alltäglichen Zusammenleben: „Natürlich gibt es hier auch Vorurteile, natürlich passieren Sachen, die gegen Menschen anderer Herkunft gerichtet sind. Das muss im täglichen Gespräch bearbeitet werden“, sagt Bretschneider.

Gemeinsam Probleme ansprechen und lösen

Gruppenbild SJC Hövelriege
Spieler des Freitags-Trainings beim SJC Hövelriege, Copyright: Benjamin Storck

Rassismus ist nicht die einzige Problematik, weiß auch Felix Linnemann. Insbesondere die Wohnsituation der Geflüchteten sowie das Asylverfahren benennt er als Herausforderungen – für die Geflüchteten, aber auch für den Verein: „Die Wohnsituation der Geflüchteten ist sehr prekär. Es wäre schön, wenn man das nicht nur auf große Unterkünfte konzentrieren würde. Durch die Weitläufigkeit der Region ist es natürlich auch schwierig, dass bestehende Angebote die Geflüchteten erreichen. Für uns bedeutet das viel Fahrerei. Auch das Asylverfahren und die gesamte bürokratische Maschinerie, in die die Geflüchteten geraten, stellen uns vor riesigen Aufgaben, die wir nicht immer bewältigen können. Wir versuchen es, aber bemerken, dass wir schnell an unsere Grenzen stoßen“.

Und trotzdem ist es gerade die offene Gesprächskultur und die Unterstützung, die den SJC Hövelriege so wertvoll und wichtig für Datta Mridul macht: „Unsere Mannschaft ist so nett, unsere Atmosphäre ist wunderschön, alle sind freundlich, wir helfen uns gegenseitig. Wenn ich ein Problem habe, kann ich es den Menschen, dem Trainer erzählen und wir versuchen gemeinsam, eine Lösung zu finden“. Und Probleme gibt es genug: Obwohl er schon seit sieben Jahren in Deutschland ist, hat er nach wie vor keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Eigentlich würde er gerne studieren, aber dafür fehlen ihm die notwendigen Deutschkenntnisse und dafür wiederum ein Deutschkurs, der über das Level B1 hinausgeht. Doch nach wie vor gilt es für Mridul zu warten – auf den positiven Asylbescheid, auf einen Deutschkurs und darauf, dass er sein Leben hier besser gestalten kann.

Seite 2: “Es wird alles bunter, heterogener, spannender” – Interview mit Prof. Dr. Ahmet Derecik

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