„Den Diskurs an junge Menschen weitergeben“

11 Jul 2019
„Den Diskurs an junge Menschen weitergeben“
Diskurs-Teilnehmer und Gäste im Gespräch, Foto: Pia Schäfer

Von Valentine Auer

Fast zwei Jahre lang setzte sich eine interdisziplinäre Gruppe von Expert*innen im Rahmen des Tutzinger Diskurses „Big Data im Gesundheitswesen“ mit den Chancen und Herausforderungen von Big Data im Gesundheitsbereich auseinander. Der Schwerpunkt lag auf der Frage, wie ein kompetenter Umgang mit Big Data aussehen kann und wie diese Kompetenzen insbesondere bei jungen Menschen gefördert werden können. Am 10. Juli 2019 fand an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing die Abschlussveranstaltung statt.

„Die Gefahr, dass wir zu langsam sind, dass die Welt über uns hinwegrollt, derweil wir philosophisch über die Frage der Datensouveränität debattieren, ist groß. Das heißt, es muss Aktion erfolgen“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Jahrestreffen des World Economic Forum am 24. Januar 2018 in Davos. Der Tutzinger Diskurs „Big Data im Gesundheitswesen“ hat in den vergangenen zwei Jahren zwar viel debattiert, ist anschließend aber auch in Aktion getreten, um das Gedachte umzusetzen. Am 10. Juli 2019 fand schließlich die Abschlussveranstaltung des Diskursprojektes an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing statt, bei der unter anderem die Ergebnisse vorgestellt wurden.

Mitgestaltung des Diskurses

„Wir denken, dass Technik sich sowieso entwickelt und wir keine Macht zur Mitgestaltung haben“, eröffnet Projektleiter Prof. Dr. Michael Spieker den Abend. Dass dem nicht so sein muss, zeigen die Ergebnisse des Diskurses. Neben dem nur schwer fassbaren, aber dennoch wichtigen Ergebnis des „Erfahrungsgewinns durch den Diskurs selbst“, wie es Ludwig Krüger, Fellow an der Akademie für Politische Bildung, nennt, entwickelten die Teilnehmer*innen auch konkrete Ergebnisse: ein Kompetenz- und Thesenpapier sowie Lehrmaterialien zum Thema Big Data im Gesundheitswesen. So wurden nicht nur die Chancen und Risiken von Digitalisierungsprozessen abgewogen, sondern zusätzlich die Frage nach notwendigen Kompetenzen debattiert und schließlich umgesetzt. „In diesem Themenbereich gibt es noch keine vergleichbaren Materialien, nichts, woran sich die Diskursgruppe hätte orientieren können”, sagt Krüger weiter. Gemeinsam mit Lehrkräften und fachdidaktischer Beratung entstanden schließlich Lehrmaterialien für die Jahrgangsstufen zehn bis dreizehn, die aber auch für die Erwachsenenbildung adaptiert werden können.

Projekttage mit Schüler*innen und Studierenden

Teile der Lehrmaterialien wurden vorab auf Projekttagen erprobt, die von Diskursteilnehmer*innen geleitet wurden, erzählt Prof. Dr. Thomas Schmaus, Diskursteilnehmer und Professor für philosophische Anthropologie: „Unser Anliegen war es, den Diskurs an junge Menschen weiterzugeben, indem sie selber in den Diskurs treten und debattieren“. Das Ziel: Die Teilnehmer*innen dieser Projekttage sollten einerseits einen eigenverantwortlichen Umgang mit Big-Data-Anwendungen lernen, andererseits Wissen erlangen, um den Diskurs selbst mitzugestalten.

So fand ein Projekttag innerhalb des Ethikunterrichts an einem Münchner Gymnasium statt. Die Schüler*innen der 11. Klasse bereiteten einen Messestand vor. Anschließend wurden die Ergebnisse präsentiert und diskutiert. Während sich dieses Modell insbesondere an die Nutzer*innen richtete, wurden beim nächsten Projekttag an der TU München Multiplikator*innen erreicht, konkret: Studierende der Gesundheitswissenschaften. Dabei sollten die Studierenden sich in die Rolle des Deutschen Ethikrates versetzen und zu den ethischen Prinzipien „Privatheit“, „Autonomie“ oder „Gerechtigkeit“ in Bezug auf Big Data im Gesundheitswesen Empfehlungen für Politik und Gesellschaft formulieren. Im Rahmen eines Wochenend-Seminars mit dem Titel „Gesünder mit Big Data!? Freiheit und Verantwortung beim Umgang mit der eigenen Gesundheit“ fand das letzte Projekt an der Alanus-Hochschule in Alfter statt. Neben Inputs und Diskussionen, gab es an diesem Tag auch praktische Übungen. So erhielten die Studierenden die Aufgabe, einen „Call to Action“ im Rahmen eines Planspiels zum Umgang mit Big Data im Gesundheitsbereich an die Politik zu formulieren.

Neue Instrumente zur informationellen Freiheitsgestaltung

Als einen wichtigen und richtigen Schritt bezeichnete Prof. Dr. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen, die Entwicklung solcher Lehrmaterialien. Auch er bezog sich auf das Zitat von Merkel und stellte sich in seiner Funktion im Ethikrat die Frage nach der Aktion im Bereich Datensouveränität. Denn durch Big Data verändert sich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Daten, da diese von unterschiedlichsten Akteur*innen generiert werden – auch von jenen, die bis dato keine Kompetenz haben. Zudem ist die Herkunft von Daten immer schwieriger nachvollziehbar, da eine ständige De- und Rekontextualisierung charakteristisch für Big Data ist. So werden auch Daten, die eigentlich gar keine Gesundheitsdaten sind, als eben solche verwendet.

Entwicklungen, die dazu führen, dass traditionelle Schutzkonzepte wie die zweckbezogene Einwilligung oder Pseudonymisierungen nicht mehr ausreichen. Stattdessen plädiert Augsberg – und der Ethikrat – für eine informationelle Datensouveränität: „Datensouveränität bedeutet für uns eine den Chancen und Risiken von Big Data angemessene verantwortliche informationelle Freiheitsgestaltung. Die Menschen müssen selbst bestimmen, mit welchen Daten sie mit ihrer Umgebung in Kontakt treten“.

Um dies umsetzen zu können, ist einerseits ein „multiperspektivischer Regelungsmix“ notwendig. Auch wenn das Gesetz zentrales Steuerungsinstrument bleiben soll, müssen zusätzlich technisch-organisatorische, materiell- und verfahrensrechtliche Elemente und Instrumente entwickelt werden. Dazu gehört zum Beispiel die Weiterentwicklung des Einwilligungsmodells, auch die Zwischenschaltung von Datentreuhändern wäre eine Möglichkeit (siehe auch: „Die Grenze ist die Wahrung der Selbstbestimmung des Einzelnen“).

Andererseits ist laut Augsberg eine umfassende, alle Akteure einbeziehende Kompetenzentwicklung notwendig, um ein datenschutzkonformes Handeln umzusetzen: „Es müssen sowohl die Chancen als auch die Risiken bei diesen Überlegungen berücksichtigt werden. Daher braucht es die regulatorische Ebene, aber auch den Kompetenzerwerb. Der Umgang mit Big Data ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung“, so Augsberg.

Am Ende des Abends erhalten die Gäste die Möglichkeit, mit den Diskursteilnehmer*innen eben diese gesamtgesellschaftliche Anstrengungen, die Risiken und Chancen von Big Data im Gesundheitswesen sowie die Umsetzung des Kompetenzerwerbes zu diskutieren. Die Ergebnisse der vergangenen zwei Jahre sollten bei der Abschlussveranstaltung nicht nur präsentiert werden, sondern auch ein Raum eröffnet werden, um ins Gespräch zu kommen, vom Diskursverlauf und den Ergebnissen in kleinen Gruppen zu berichten und Fragen zu beantworten. So ist auch die Abschlussveranstaltung selbst ganz und gar Diskurs und die Diskussionen können so erneut durch Multiplikator*innen weitergetragen werden.

 

Die Lehrmaterialien stehen hier kostenlos zum Download zur Verfügung. Das Kompetenzpapier kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

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